"Pflege ist ein eigenständiger, hochqualifizierter Berufszweig und nicht eine billigere Medizin."

"Pflege ist ein eigenständiger, hochqualifizierter Berufszweig und nicht eine billigere Medizin."

Dätwyler-Wehrli: Caring und Curing sind gleichwertig

Barbara Dätwyler-Wehrli auf der 50-Jahrfeier der B. Braun-Stiftung 

Professionelle Pflege kann eine lebenslange Leidenschaft sein. Professionalisierung und Weiterbildung in der Pflege sind Themen, die das Leben der Schweizerin Dr. Barbara Dätwyler-Wehrli prägen und für die auch die B. Braun Stiftung steht. Die frühere Krankenschwester, Krankenpflegelehrerin und Soziologin war fast 25 Jahre im Kuratorium der Stiftung für die Begutachtung von Schweizer Stipendien und Förderanträgen zuständig und hat die Weiterentwicklung der Stiftung mit ihren Initiativen und Ideen unterstützt.

 

Sind Sie aus Leidenschaft Krankenschwester geworden?

Ich hatte keinen Wunsch, Krankenschwester zu werden. Ich bin eher zufällig in diese Ausbildung geraten. Ich habe vorher in der 1968-er Zeit in Paris gelebt und kam dann nach Bern in den Lindenhof. Ich habe als Lernende vieles nicht verstanden, zum Beispiel Arztvisiten, wenn ein Arzt die Krankenschwester mit einem Bonbon belohnte. Nach der Ausbildung bin ich ziemlich bald als Lehrende in die Krankenpflegeschule des Lindenhofes berufen worden. Später habe ich erfahren, dass viele, die sehr „eigensinnig“ waren, für führende Positionen ausgewählt wurden . Für mich war das gut, ich bin vermutlich deshalb in dem Beruf geblieben.


Welche Aspekte der Pflege haben Sie besonders geprägt?
Ich habe mich mein ganzes Leben mit der Geschichte und sozialen Stellung der Pflege und mit der Berufsidentität beschäftigt. Während meiner sozial-historischen Studien ist mir klar geworden, wie professionell die Frauen waren, die früher in der Pflege gearbeitet haben. Sie haben Pflege wirklich zu einer Profession gemacht. Die Studie „Mit-Leidenschaft“ von 1995 hat eindrücklich gezeigt, dass die Pflegenden ihr ganzes Berufsleben vor allem auf das Wohl ihrer Patienten und kaum auf die eigenen Interessen fokussiert sind. Das ist aus gesellschaftlicher Sicht eine große Stärke. Das hat mich immer unglaublich beeindruckt. Und die Pflegenden waren und sind es vielfach heute noch, nicht nur a-, sondern antipolitisch. Sie kämpfen mehr um Ressourcen, die ihnen erlauben ihre Patienten lege artis pflegen zu können, als um ein besseres, adäquates Gehalt. Das macht sie sehr verletzlich. Ich sah meine Aufgabe darin, beides zu erreichen, genügende Ressourcen für eine professionelle Pflege und gleichzeitig adäquate Lohneinstufungen. Mit anderen Worten die vollumfängliche Anerkennung des Pflege als Beruf.


Wie bewerten Sie Pflege im Zusammenspiel mit den ärztlichen Berufen?
Pflege ist ein eigenständiger, hochqualifizierter Berufszweig und nicht eine billigere Medizin. Das haben die Pflegenden seit der Gründung der Pflege als Beruf um 1900 gewusst, gelebt und im Laufe der Zeit bis heute in Theorie und Praxis weiter entwickelt. In den vielen Interviews mit Pflegenden aller Generationen hat sich gezeigt, dass Pflegende und Ärzte in der Praxis immer gut und gerne zusammenarbei(te)ten. Der unterschiedliche soziale Status ist etwas anderes und hat mit der Stellung der Frauenberufe zu tun. Hier wurde professionspolitisch viel erreicht in den letzten Jahrzehnten.


Wie haben Sie die Entwicklung der B. Braun Stiftung erlebt?
Ich kam 1991 in das Kuratorium der B. Braun Stiftung. Die Stiftung war damals geprägt von Dr. Bernd Braun. Herr Braun hat eine Kultur des Sichkennens gepflegt; er wollte wissen, mit wem er es zu tun hat. Durch ihn lernte ich die Stiftung und vor allem die Umsetzung des Stiftungszweckes kennen, nämlich die Förderung der Gesundheitsberufe. Damals saßen in den jährlichen Kuratoriumssitzungen noch Pflegende auf der einen und Ärzte, Spitalleiter und Apotheker auf der anderen Seite des Tisches. Jedes Jahr wurde abwechselnd ein Referent aus der Medizin oder der Pflege für einen Vortrag auf der Kuratoriumssitzung vorgeschlagen. Ab 2003 kamen wirtschaftliche Themen hinzu. Alle Kuratoriumsmitglieder waren sehr lange dabei, ich fast 30 Jahre, so dass wir uns über die Jahre gut kennenlernten. Dafür hat immer wieder die Stifterfamilie gesorgt. Ich habe über und in der Stiftung viele interessante Menschen kennengelernt und an lebhaften, teilweise kontroversen Diskussionen teilgenommen.

Können Sie sich an ein besonderes Erlebnis in Ihrer Mitarbeit in der B. Braun Stiftung erinnern?
In den 1990-er Jahren kam die Pflegewissenschaft auf, die damals nicht nur unter Ärzten, sondern auch in eigenen Kreisen kritisch gesehen wurde. Das war ein Thema, mit dem wir uns auf der Kuratoriumssitzung auseinandersetzten. 1993 konnte ich Dr. Sabina de Geest aus Belgien für das Hauptreferat der Kuratoriumssitzung gewinnen. Ich hatte damals das Projekt eines ersten Lehrstuhls für Pflegewissenschaften in der Schweiz angestoßen, aber es erschien mir zu offensiv, es als erstes Vortragsthema einzubringen. Frau de Geest referierte über eine Pflegestudie zur Isolation von Verbrennungspatienten. Ein Arzt fragte sie, „warum haben Sie nicht Medizin studiert?“ und sie antwortete blitzschnell: „Warum haben Sie nicht Pflege studiert?“


Akademisierung und Professionalisierung – sind die Begriffe für Sie austauschbar?
Ein primäres Selbstverständnis als akademischer Beruf schwächt die Berufspolitik. Professionalisierung im soziologischen Sinn – und ich folge da dem angelsächsischen Ansatz – heißt nicht, der Beruf ist professionalisiert, weil er an einer Universität gelehrt wird. Ein Beruf professionalisiert sich über seine Funktion. Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit dienen dem Zweck, dass die Pflege besser wird und nicht irgendwelchen Status- oder Karrierezwecken. Statusveränderungen und Karrieremöglichkeiten ergeben sich als Folge der Entwicklung. Es ist heute evident und heute glücklicherweise selbstverständlich, dass Pflege auch universitär verankert sein muss. In den Ländern, die das duale Bildungssystem nicht kennen, gibt es ja nichts anderes.


In diesem Sinn haben Sie sich schon vor Jahren für die Gründung eines Instituts für Pflegewissenschaften eingesetzt?
Ein eigenes Forschungsinstitut war und ist wichtig für die Entwicklung der Profession. Wissenschaft ist immer schon in der Pflege selbstverständlich gewesen. Ich wüsste nicht, wie Patienten ohne korrekte Antibiotikaabgabe früher überlebt hätten, wenn die Pflegenden in der Hygiene nicht wissenschaftlich vorgegangen wären. Dass die Pflegenden dann irgendwann für sich beanspruchten, ihre wissenschaftlichen Fragen selbst zu beantworten, ist für mich nur selbstverständlich.


Was ist das Wichtigste für die Zukunft der Pflegeberufe?

Die Herausforderung ist, den Beruf attraktiv zu halten und zu verhindern, dass die Pflegenden unzufrieden werden. Pflegende möchten ihre Arbeit nach „State of the Art“ durchführen. Wenn sie dabei aufgrund wirtschaftlicher Vorgaben immer mehr Abstriche machen müssen, dann heisst das Deprofessionalisierung. Selbstverständlich geht es auch um die Anerkennung der Profession. Ein Pflegestudium abzuschliessen, um dann viel weniger zu verdienen als nach vergleichbaren Studiengängen, ist nicht zuträglich. Hier hat die Politik wichtige Aufgaben, und zwar nicht etwa nur die Professionspolitik. Die Pflegeversorgung ist ein genuin gesellschaftspolitisches Thema.


Was macht eine gute Pflegekraft aus? Was ist für Sie gute Pflege?
Als Pflegende ist man mitten im Leben. Die Palette an Dingen, die man lernen und gut können kann, ist unbegrenzt. Wenn die Pflege zu einem Ganzen wird und man sich in den komplexen Abläufen so bewegen kann, dass Patienten im Zentrum des eigenen Tuns stehen, dann vermittelt man professionelle Pflege. Pflege kann – wie jede Profession- zur Kunst werden, heißt ihr Spezialwissen und – können mit Zuwendung umsetzen und Verantwortung übernehmen. Das nennen wir in unserem Fall Caring.


Haben Sie einen Wunsch an die B. Braun Stiftung?
Der Diskurs über die Funktion und die inhaltliche Autonomie der Professionen sollte neu geführt werden. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind weltweit die Professionen unter die Räder der Ökonomie geraten. Ihre Tätigkeiten werden auf Wirtschaftlichkeit und Kosten durchleuchtet und danach in Funktionen zergliedert und umgestaltet. Das Konzept der Profession impliziert dagegen, dass die Professionellen ihr Wissen und Können als eigenständiger Pfeiler in die Gesellschaft einbringen. Im Idealfall stellen die Professionen zusammen mit Staat und Wirtschaft ein gleichschenkliges Dreieck dar. Ich will – vom Staat garantiert, sicher sein, dass mein Arzt oder meine Pflegefachfrau mich nach professionellen Standards behandeln und nicht nach marktorientierten Interessen. Wenn Staat oder Wirtschaft die Professionen dominieren oder vereinnahmen, sind die Dienstleistungen qualitativ oder gar grundsätzlich gefährdet. Die Professionen und deren Ethik dürfen nicht erodieren. Die B. Braun-Stiftung ist prädestiniert, die Reflexion über das Verhältnis von Profession und Ökonomie anzuführen, weil sie immer beide Seiten vertreten hat, Professionalisierung und Ökonomisierung.

Pflegende sind dort, wo das Leben ist

Fragt man Barbara Dätwyler-Wehrli, warum sie ihr Berufsleben der Pflege gewidmet hat, lenkt sie den Blick auf die Schweizer Krankenschwestern, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Krankenpflege zu einem hochprofessionellen Beruf entwickelten. Die Augen der Soziologin und Krankenpflegelehrerin leuchten vor Begeisterung, wenn sie vom unermüdlichen Einsatz der Schwestern erzählt: „Sie kümmerten sich rund um die Uhr um ihre Patienten, mit wenig Aussicht auf angemessene Bezahlung.“ Das habe ihr imponiert, aber auch ihren Kampfgeist geweckt, etwas in Bewegung zu bringen, erklärt die heute 65-Jährige.

Als die Bernerin 1991 dem Kuratorium der B. Braun-Stiftung beitrat, war gerade ihr erstes Buch zur „Professionalisierung der Krankenpflege“ erschienen. Anhand historischer Dokumente hatte sie die Schweizer Pflegegeschichte bis in die 1920-er Jahre aufgearbeitet. Die Schweizerin prägt von da an nicht nur die Berufskunde und -politik der Pflege in der Schweiz. Aus ihrer Arbeit entsteht über die Landesgrenzen hinweg eine Pflege-Frauenbewegung, zu denen auch die erste deutsche Pflegeprofessorin Hilde Steppe gehört, die ein Ziel hat: das von jeher starke Berufsbild öffentlich zu machen. Mit ihrer Erfahrung als Krankenschwester, weiß sie als Krankenpflegelehrerin, wovon sie spricht. Berufskunde-Weiterbildungen für Krankenpflegelehrer und diplomiertes Pflegepersonal werden entwickelt. Auf länderübergreifenden Geschichtskongressen erfolgt ein Austausch über die neue Sicht auf die Pflegeprofession. „Wir haben es zum Thema gemacht, wer wir sind und wie die Entwicklungen waren “, erklärt die Pflegeexpertin. „Publizieren und Politisieren gehörten dazu.“

Dabei wollte Barbara Dätwyler-Wehrli nicht unbedingt Krankenschwester werden. Sie ist 18 Jahre alt, als sie 1969 mit der dreijährigen Krankenpflegeausbildung in der Stiftung Lindenhof in Bern beginnt: „Ich kam aus Paris, in ein Internat mit Tracht und Haube und dachte, das Leben ist vorbei“, erinnert sie sich. In der Lehre findet sie dann ihre Bestimmung, unterrichtet 25 Jahre an Schulen des Lindenhofes in Bern, baut anschließend im Universitätsspital Bern die Pflegewissenschaft auf und führt schließlich 12 Jahre lang die größte Sektion des Berufsverbandes der Pflegenden als geschäftsführende Präsidentin.


Das Frauenbild, das in der Öffentlichkeit von Pflegenden herrschte, hat Barbara Dätwyler-Wehrli von Beginn an kritisch gesehen und immer eine ausreichende Entlohnung gefordert. „Pflegende möchten sich eigentlich nur um ihre Patienten kümmern“, sagt sie. Für sie ist klar, dass gerechte Bezahlung nur mit einem geschärften Berufsprofil und der Richtigstellung des Berufsbildes in der Öffentlichkeit umsetzbar ist. Die Forderung, Wissenschaft formal in die Pflege zu integrieren ebnete in den 1990-er Jahren den Weg zur Einrichtung eines Lehrstuhls für Pflegewissenschaften an der Universität Basel. Sie selbst nahm 1999 ,, sobald die zwei Kinder gross genug waren mit 49 Jahren ein Studium in Nottingham auf, das sie 2008 mit der Promotion „Professionalisierung der Pflege am Beispiel der Schweiz“ abschloss. Geprägt von der Aufbruchsstimmung der 1968-er-Generation steht die Schweizerin für Emanzipation und Gleichberechtigung. Sie diskutiert, polarisiert und sagt, was sie denkt. Einmal, so erzählt die junggebliebene Frau mit der modernen Pagenkopffrisur, habe sie Politiker in eine Langzeitpflegeeinrichtung mitgenommen. „Die, die es über die Schwelle ins Patientenzimmer geschafft und sich mit Alter, Körper und Krankheit konfrontiert haben, waren so glücklich nachher.“ Da sei ihr klar geworden: „Pflegende sind hinter dieser Schwelle, wo niemand hin will. Aber sie sind auch dort, wo das Leben ist.“


Für die Schweizerin ist Pflege eine Handwerkskunst, im guten Fall eine „Exzellenz“, wie sie sagt, und genauso hoch zu bewerten wie etwa die Tätigkeit als Arzt. Pflege sei eben nicht nur Ökonomie und das Ausüben einer Funktion. „Gute Pflege ist, dem Menschen Fürsorge zuteil werden lassen“, beschreibt sie die Stärke des Pflegeberufes. Caring oder ganzheitliche Pflege als Berufskompetenz sei etwas zutiefst Menschliches.

Barbara Dätwyler-Wehrli hat sich Anfang 2015 nach 24 Jahren aus dem Kuratorium der B. Braun Stiftung verabschiedet. Sie lebt mit ihrer Familie in Bern und setzt sich bis heute für Menschlichkeit und Professionalität in der Pflege ein – im Gemeinderat, dem Verwaltungsrat des Bernerbildungszentrums Pflege und in anderen Gremien.

Das Interview als Pdf-Datei

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Interview mit Barbara Dätwyler-Wehrli
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