"Mein Ansporn war die Pflege selbständig und stark zu machen.“

"Mein Ansporn war die Pflege selbständig und stark zu machen.“

Ingrid Bäuml, Kuratoriumsmitglied von 1977 bis 2004

Ingrid Stephanie Bäuml absolvierte ab 1960 eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester. Schnell bildete sie sich zur Unterrichtsschwester und in Allgemeiner Krankenpflege weiter. Ab 1975 baute die bekennende Christin die Katholische Akademie für Pflegeberufe in Bayern e.V. Regensburg auf, deren Geschäftsführerin sie bis zu Ihrer Pensionierung in 2004 blieb. Von 1977 bis 2004 saß Bäuml im Kuratorium der B. Braun-Stiftung. Besonders am Herzen lag ihr die Professionalisierung und die Ethik in der Pflege: „Mein Ansporn war stets, die Pflege selbständig und stark zu machen“, sagt sie. Themen, die auch immer im Fokus der B. Braun-Stiftung standen. Und so war Ingrid Bäuml 27 Jahre lang Mitglied im Kuratorium der B. Braun-Stiftung.

Frau Bäuml, wann sind Sie der B. Braun-Stiftung oder dem Unternehmen B. Braun das erste Mal in Ihrem Leben begegnet?


Als die B. Braun-Stiftung 1966 gegründet wurde, war ich eine junge Krankenschwester und habe am katholischen Fortbildungsinstitut in Freiburg die Weiterbildung zur Unterrichtsschwester absolviert. Dort habe ich die Bekanntschaft mit einer der ersten Stipendiatinnen der B. Braun Stiftung gemacht. In dieser Weiterbildung haben wir dann auch eine Studienfahrt nach Melsungen gemacht und uns das Unternehmen B. Braun angeschaut. Damals gab es noch Nahtmaterial, das aus Schafsdärmen hergestellt wurde – wenn ich daran denke, rieche ich quasi noch, wie das da in den Fässern lag. Der Familie Braun war es damals schon ein Anliegen, dass die OP-Schwestern besonders qualifiziert werden. Und so wurde das in der Zeitschrift „Die Schwester“ thematisiert, die in großer Auflage kostenfrei an das Pflegepersonal deutscher Krankenhäuser versandt wurde und die ich immer las. In jeder Ausgabe gab es auch immer eine feste Beilage zum Thema „Ethik in der Pflege“. Denn es war ein großes Anliegen der Gebrüder Braun, dass man sich auch der ethischen Aufgabe der Pflege bewusst wird.

Ingrid Bäuml auf der 50 Jubiläumsfeier der B. Braun-Stiftung 

Wie kam es dann, dass Sie Mitglied im Kuratorium der B. Braun-Stiftung wurden?

Ich habe 1975 in Regensburg die Katholische Akademie für Pflegeberufe aufgebaut. Die Fort- und Weiterbildung der Schwestern und Pfleger dort bezog auch ethische und christliche Werte mit ein. Es war uns besonders wichtig, dass wir eine Weiterbildung anbieten, in der nicht nur sachlich-professionell gearbeitet wird, sondern die den Mensch als Individuum in seiner Ganzheit fördert. Und da es auch den Gebrüdern Braun besonders wichtig war, dass Medizin und Pflege nicht nur als Wirtschaftsmaschinerie funktionieren, sondern ethische und christliche Werte mit einbeziehen, wurden sie auf mich aufmerksam.

Erinnern Sie sich noch an das erste Treffen mit den Gebrüdern Braun?

Das erste Treffen war mit Dr. Bernd Braun – und ich werde es nie vergessen. Er hat mich in das Luxushotel Bayerischer Hof in München eingeladen. Das war damals, 1977, natürlich etwas ganz Besonderes für eine Krankenschwester wie mich. Bei einem Abendessen mit seiner Frau hat er mir die ethischen Werte der Stiftung nochmals verdeutlicht. Da ihm sowohl die ganzheitliche Pflege als auch die Ökumene besonders wichtig war, hat er mich als Katholikin dann gefragt, ob ich bereit wäre, Mitglied im Kuratorium zu werden.

Haben Sie Dr. Brauns Bitte gleich angenommen?

Nach ein wenig Bedenkzeit, habe ich sehr gerne zugesagt. Ich habe erkannt, dass die Stiftung ganz wesentlich dazu beitragen kann, die Weiterentwicklung der Pflege zu fördern: Sie wollte die Pflegenden nicht nur fachlich weiterqualifizieren, sondern auch deren Persönlichkeitsentwicklung fördern. Denn damals war die Pflege noch sehr abhängig von der Medizin, recht unselbstständig. Da hat der Chefarzt der Schwester gesagt, wie sie etwas zu machen hat. Um die Auffassung „Pflege ist ein Hilfsberuf für die Ärzte“ zu ändern, war es wichtig, starke Persönlichkeiten auszubilden. Ich wurde dann auch sehr schnell Mitglied im Vergabeausschuss für die Stipendien. Auf der Suche nach geeigneten Kandidaten habe ich meterlange Regale an Bewerbungen durchgesehen – sollten die Stipendiaten sich doch auch wirklich innerlich weiterbilden wollen und nicht nur am Geld interessiert sein. Denn das waren doch beträchtliche Summen, die in all den Jahren von der Stiftung in die Weiterbildung investiert wurden.

Erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Sitzungen im Kuratorium? Was waren 1977/78 wichtige Themen?

Dass die Krankenpflege eine bessere Qualifizierung bekommt – darum hat die B. Braun-Stiftung ja auch so stark in die Weiterbildung von Schwestern und Pflegern investiert. Es ging darum, die Pflegenden dahin zu bringen, dass sie begründen, beurteilen und so auch fordern können. Deshalb braucht es Wissenschaftler, die Pflege fundiert untersuchen. Nicht wie es früher oft hieß: „Das haben wir immer schon so gemacht“, sondern analysieren, was und wie es besser gemacht werden kann. Das Beispiel „Decubitus“ ist da sehr anschaulich: Wund gelegen haben sich früher viele Menschen. Dass die Druckgeschwüre entstanden, weil man die Bettlägerigen nicht richtig oder nicht genügend gelagert hat, fand man erst durch Studien heraus. Deshalb ist die Akademisierung der Pflege so wichtig. Darüber gab es im Kuratorium anfangs sehr heiße Diskussionen. Die beisitzenden Mediziner konnten das damals noch nicht als wichtig ansehen (schmunzelt). Aber mit der Zeit kam die Einsicht und uns ist der Konsens gelungen. Die B. Braun-Stiftung hat dann auch die private Universität Witten/ Herdecke gefördert, sodass dort ein Lehrstuhl für Pflegewissenschaften geschaffen werden konnte. Und auch in den Kasseler Fortbildungstag für Pflegende hat die Stiftung viel investiert – noch heute eines der größten Fachforen. Also das waren schon tolle Erfolge.

Gab es Themen, bei denen Sie nie einen Konsens im Kuratorium erreicht haben?

Nein, wir haben immer durchgekriegt, was wir auch überzeugend darstellen konnten. Von der Stiftung wurde jeder gehört – ein Professor war im Kuratorium nicht mehr wert als eine Krankenschwester. Da gab es auch keine Standesdünkel. Zwar gab es insofern eine Abgrenzung, dass sich jede Profession für ihre Themen stark gemacht hat, aber letztendlich hatten wir alle eine gemeinsame Aufgabe und haben deshalb an einem Strang gezogen. Die Arbeitsatmosphäre war immer sehr angenehm und produktiv.

Wie liefen die Kuratoriums-Sitzung damals ab?

Wir kamen einmal im Jahr zu der Kuratoriumssitzung zusammen. Am Vorabend reisten alle bereits an und wir trafen uns zu einem gemeinsamen Abendessen. Am nächsten Morgen begann die Sitzung dann immer mit dem Jahresbericht des Vorsitzenden: Was ist alles gelaufen? Wo sind Gelder hingeflossen? Und haben wir alles erreicht, was wir uns vorgenommen hatten? Dann referierte ein Gast über ein Fokus-Thema, das wir im Vorjahr beschlossen hatten und wir diskutierten weiter Themen und geeignete Maßnahmen, um gemeinsam definierte Ziele zu erreichen. Es war immer ein sehr gutes, harmonisches Miteinander. Ich denke, das lag aber auch daran, dass wir uns für unser ehrenamtliches Engagement wertgeschätzt gefühlt haben. Die Stiftung hat uns nach der Sitzung immer noch zu einer kulturellen Veranstaltung eingeladen. Das hat der Seele gut getan und auch den Zusammenhalt unter den Kuratoriums-Mitgliedern gestärkt. Wir konnten uns so persönlich kennen lernen. Familie Braun kam auch oft vorbei. Für mich waren das alles Gesten ihrer Anerkennung unserer Arbeit.

Wieso liegen Ihnen ethische Werte so am Herzen?

Ich habe meine erste Ausbildung 1960 in München am Kinderkrankenhaus Lachner Straße gemacht. Dort arbeiteten auch Ordensfrauen, in denen ich gute Vorbilder hatte. Ich habe durch sie eine Pflege erlebt, wo das Kind und seine Familie als Ganzheit gesehen wurden und jeder Mensch mit Leib, Seele und Geist. Das hat mich fasziniert und meinen Anspruch von Pflege geprägt. Es darf nicht sein, dass auf Station gesagt wird „Der Blinddarm auf Zimmer fünf“! Das ist Frau Meier oder Müller, ein Mensch mit seinem ganzen Hintergrund und keine Nummer. Mir war es dann später als Unterrichts-Schwester und Akademie-Leitung auch immer wichtig, dass man Pflege nicht nur als Beruf vermittelt, sondern auch ein wenig Berufung mit hineinkommt.

Wie haben Sie diese ganzheitliche Auffassung von Pflege vermittelt?

Unser Anliegen in der Fortbildung der Leitenden und Lehrenden damals war, sie davon zu überzeugen, dass sich das System in der Pflege ändern muss. Früher ging eine Schwester morgens rum und hat die Temperatur gemessen. Eine Stunde später kam dann eine andere fürs Blutdruckmessen, ein wenig später dann noch die Spritzen-Schwester und wieder eine andere für Verbände, Wickel, Auflagen usw. Ich habe gesagt: Das muss abgeschafft werden! Ich kannte das so auch nicht von der Kinderkrankenpflege, da hat man möglichst alles auf einmal an dem Kind gemacht. Schon in meiner zweiten Ausbildung in Allgemeiner Krankenpflege – nach meiner Weiterbildung und Tätigkeit als Unterrichtsschwester in Kinderkrankenpflege – habe ich auf Station gesagt: Lasst es uns in der Erwachsenenpflege mal versuchen, wie wir es bei den Babys und Kindern machen. Von da an habe ich angefangen an sechs Frauen, alles was pflegerisch zu tun war, im Zusammenhang zu machen. Da sagten die Frauen mir eines Tages: „Sie sind so ganz anders als die anderen Schwestern.“ Nur weil ich die Pflege nicht so zerrupft habe. Denn so hat man viel mehr Zeit mit dem Patienten zu reden und bekommt raus, wie es ihm wirklich geht. Der Patient erlebt so während der Pflege, dass man mit ihm fühlt und für ihn denkt. Man bekommt nicht nur einen anderen Bezug zum Patienten, sondern ich spare auch noch Zeit und er kann sich besser erholen! Das haben wir dann inhaltlich in unsere Weiterbildungen einbezogen.

Was war Ihnen bei der Qualifizierung der leitenden und lehrenden Pflegekräfte noch besonders wichtig?

Anerkennung und Lob – und dass sie das auch an ihre Mitarbeiter weitergeben! Früher hat man nämlich nie gelobt, nur geschimpft. Wir haben selber eine kleine Studie gemacht und Pflegende befragt, wann sie ins Büro der leitenden Pflegekraft gerufen werden. Immer nur wenn Sie eine Schelte bekommen haben! Ich habe gesagt: Genau andersrum müsst ihr es machen, ihr müsst eure Mitarbeiter loben! Lob und Anerkennung braucht doch jeder Mensch.

Gab es damals unter den Pflegekräften schon Burnout?

Nein, das gab es damals in diesen Ausprägungen wie heute nicht. Man hat zwar mehr gearbeitet – 60 Wochenstunden waren in den 60/70er Jahren normal – aber dafür geschah alles nicht so unter Stress. Stichwort Fallpauschale: Früher ist der Patient in der Regel 10-14 Tage in der Klinik geblieben. So hatte man Zeit, die medizinische Betreuung in Ruhe abzuwickeln. Weil die Kliniken trotz Fallpauschale auch ein wenig profitieren wollen, wird die Zeit für Pflege heute immer enger, die Aufgaben immer komprimierter. Das sind gesellschaftliche Entwicklungen, die man nicht aufhalten kann. Aber deshalb muss man heute versuchen, dem Personal dann wenigstens einen Arbeitsplatz zu bieten, der von den Rahmenbedingungen und der Menschlichkeit her stimmt.

Wie kann die Anerkennung und Aufwertung des Pflegeberufs heute gelingen?

Ein Weg kann das Pflegereform-Gesetz sein: Eine generalisierte Ausbildung, verbesserte Arbeitsbedingungen und Entlohnung sowie eine bessere Ausbildung der Verantwortlichen wären sehr wichtig, um den Pflegeberuf aufzuwerten und wieder mehr Menschen dafür zu gewinnen. Dieses Wissen ist bei den Pflegeorganisationen und den Verantwortlichen in der Politik vorhanden. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die Politik den Mut hat, das Pflegereform-Gesetz so zu verabschieden. Denn das kostet Geld und da stoßen wir an Grenzen: Wer soll das bezahlen? Im Sozialabgaben-Bereich müsste ein höheres Budget für die Pflege freigemacht werden, aber da kein Geld da ist, lässt man es einfach so weiter laufen, wie bisher.

Für was würden Sie sich heute außerdem besonders einsetzen, wenn Sie jetzt noch im Kuratorium aktiv wären?

Ich würde dafür kämpfen, dass in allen Bundesländern eine Pflegekammer gegründet wird. In Rheinland-Pfalz gibt es jetzt die erste (lächelt). Eine Verkammerung der Berufsgruppe ist wichtig, damit die Pflege auch über sich selbst bestimmen darf. Es kann nicht sein, dass Politiker, Mediziner und andere über die Pflege bestimmen! Außerdem würde ich mich dafür einsetzen, dass die Gesellschaft besser informiert wird, warum sich die Situation in der Pflege nicht verbessert – dass dies nicht gehen wird, ohne dass die Gesellschaft finanziell etwas dazu beiträgt. Und auch die Weiterentwicklung der Palliativmedizin und -pflege wäre mir ein großes Anliegen, da braucht es noch viel mehr Einrichtungen.

Welche Bedeutung hatte die B. Braun-Stiftung für ihr Leben ?

Ich bin dankbar, dass ich die Chance hatte, im Kuratorium mitzuarbeiten. Denn es war stets mein Ziel, die Pflege zu verbessern und zu stärken! Deshalb war ich auch noch in anderen Organisationen aktiv, etwa im Deutschen Bildungsrat für Pflegeberufe oder dem Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung. Ich bin wirklich zufrieden, dass ich mich so für die Pflege einsetzen konnte. Nur manchmal bin ich ein bisschen traurig, dass es immer noch so langsam weiter geht. Und dass vieles mehr und mehr unter dem wirtschaftlichen Aspekt gesehen wird. Hier ist die Stiftung besonders wichtig, um das Anliegen der Familie Braun weiterzutragen: Sich auch der ethischen Verantwortung bewusst werden, die mit Pflege und Medizin zu tun hat! Den Menschen als Ganzes sehen und ihm Anerkennung dafür zu geben, was er tut! Dieses Anliegen von B. Braun war für mich immer spürbar.

Anerkennung wurde Ihnen auch sonst häufig gezollt: Sie haben viele Auszeichnungen bekommen, etwa das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland und das goldene Ehrenzeichen des Caritasverbandes. Macht Sie das Stolz?

Ich bin dankbar, was mir alles gelungen ist durch mein ehrenamtliches Engagement rund um die Pflege auf Bundes- und Landesebene. Ein wenig stolz bin ich, dass wir die Fachweiterbildung zur Diabetes-Beraterin eingeführt haben und auch auf den Bayerischen Verdienstorden. Den Bayerischen Verdienstorden habe ich bekommen, weil ich unsere Berufsgruppe in Bayern so vorangetrieben habe: Ich war Ansprechpartner für den Landtag und das Sozialministerium.

Sie sind im Sommer 2016 74 Jahre alt geworden. Haben Sie heute immer noch etwas mit Pflege zu tun?

Ja, ich bin immer noch ehrenamtlich tätig, etwa für den Katholischen Pflegeverband. Und ich bin offizielle Betreuerin meines Cousins und einer Freundin, weil die beiden sonst keine Angehörigen haben. Da begegnen mir wieder ethische Fragen, weil ich für diese beiden die Verantwortung habe und für sie Entscheidungen treffen muss. Am Lebensende sind das schon schwere Entscheidungen. Die kann man nur vom Glauben her lösen.

Haben Sie noch Ziele?

Ziele habe ich immer: Ich möchte möglichst gesund leben, achte deshalb auf viel Bewegung. Und ich werde niemals Nein sagen, wenn ich etwas dazu beitragen kann, die Pflege noch stärker und selbständiger zu machen. Ich werde immer mal wieder angesprochen, wie ich bestimmte Dinge denn heute sehen und wie ich damit umgehen würde. Denn ich kann auf viel zurückschauen. Ich hatte ein reiches Leben und bin dafür sehr dankbar.


Oktober 2016.
Das Interview führte Anja Speitel, Diplom-Journalistin, München

Das Interview als Pdf-Datei

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Interiew mit Ingrid Bäuml
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