Caring muss die Grundhaltung in der Pflege bleiben

Caring muss die Grundhaltung in der Pflege bleiben

Zum heutigen Tag der Pflege und gleichzeitig dem 59. Jubiläum der B. Braun-Stiftung sprechen wir mit Dr. rer. cur. Jörg Kurmann, M.A. Als promovierter Pflegewissenschaftler setzt sich Jörg Kurmann nicht nur für eine hochwertige Patientenversorgung ein, sondern engagiert sich besonders für mehr Selbstbestimmung, bessere Bezahlung und Verantwortung von Pflegenden im Krankenhausalltag. Im Gespräch mit uns gibt er Einblicke in die Herausforderungen und Chancen der Pflege heute und reflektiert über die Bedeutung seines Berufs in Zeiten des Wandels.

Kurmann nahm im Jahr 2012/2013 an der Expertise in Leadership teil und ist somit Alumni der B. Braun-Stiftung.

Hallo Jörg, bist du Pflegedirektor aus Leidenschaft? Was hat dich ursprünglich dazu inspiriert, in der Pflege zu arbeiten und was ist das Tolle daran?

Im Alter von 17 Jahren hatte ich einen schweren Verkehrsunfall, der einen längeren Krankenhausaufenthalt zur Folge hatte. In dieser Zeit erlebte ich sowohl auf der Intensivstation, aber auch auf der Normalstation, was es heißt mit Herz Menschen zu pflegen. Ganz besonders zu erwähnen war in der Zeit ein Pflegefachmann, der meine Bezugspflegekraft war und immer genau wusste, wie er mich aufmuntern konnte und mich motivierte immer wieder neue Ziele zu setzen. Dieses positive Erlebnis (abgesehen von meinen Verletzungen) hat mich so nachhaltig beeindruckt, dass ich auch in die Pflege gehen wollte. Seitdem bin ich mit Herzblut Pflegefachmann. Für mich ist das Tolle an der Pflege, dass sie so vielseitig ist: Kein Tag ist wie der andere, man arbeitet im Team, wird ständig mit neuen Situationen konfrontiert und das Beste ist, dass man immer ein direktes Feedback von den Menschen bekommt. Auch wenn ich heute nicht mehr im direkten Patientenkontakt bin, schätze ich diese Tatsache an dem Beruf der Pflege sehr.

Die Grundhaltung der Pflege ist sich um den Menschen kümmern, ihn in schwachen Situationen zu unterstützen, ihn zu pflegen. Ist „Caring“ heute noch möglich?

Die Frage ist aktueller denn je, denn in der aktuellen Zeit, in der alle Gesundheitseinrichtungen unter einem enormen ökonomischen Druck stehen, die Pflege unter Zeitdruck und Personalmangel leidet, wird Caring – also das einfühlsame, fürsorgliche Handeln und manchmal auch nur der eine Augenblick mehr, den der Patient braucht, um sich gesehen zu fühlen – oft erschwert oder sogar als entbehrlich wahrgenommen. Ob Caring möglich ist, ist damit einmal eine Frage der Rahmenbedingungen, aber genauso eine Frage der Haltung der Pflegefachpersonen, da für mich Caring ein Kern pflegerischen Handelns darstellt.

Wie gelingt es dir und deinem Team, diese fürsorgliche Grundhaltung trotz hoher Arbeitsbelastung und Personalmangel aufrechtzuerhalten? Glaubst du, das ist auch in Zukunft möglich?

Das ist eine Frage der Haltung der Pflegenden selbst, aber auch ein Frage der organisationalen Priorisierung. Natürlich sind ökonomische Ziele wichtig, aber bei mir in der Einrichtung sehen wir Zeit für die Patient*innen als genauso wichtig an. Daher legen wir viel Wert auf die zwischenmenschlichen Aspekte die Teil der Pflege sind. Das zahlt sich in doppelter Hinsicht aus, da sowohl die Patient*innen als auch die Pflegenden davon profitieren.

Haben sich die Auszubildenden verändert, seit du selbst die Ausbildung gemacht hast?

Selbstverständlich! Aber auch ich war ein anderer Auszubildender im Vergleich zu den Generationen zuvor. Die jungen Auszubildenen verändern sich genauso wie die Gesellschaft sich verändert. Das wird für die Älteren immer als schwierig und anstrengend wahrgenommen.  Dabei ist das aus meiner Sicht ganz normal. Die jungen Menschen von heute sind viel selbstbestimmter, hinterfragen immer mehr die Sinnhaftigkeit und teilweise haben sie auch etwas an Eigenständigkeit verloren. Ich appeliere immer daran, die Auszubildenen mehr verstehen zu wollen, als darüber zu schimpfen, wie anders sie zu der eigenen Haltung verhalten. Wenn wir unzufrieden mit der Haltung der jungen Menschen sind, sollten wir lieber einmal die Erziehung unserer Kinder überdenken, statt die jungen Menschen zu verurteilen. Hinzu kommt noch, dass die gesellschaftlichen Ansprüche, leistungsfähig und erfolgreich zu sein, deutlich gestiegen sind und zu einer deutlicheren Belastung der jungen Menschen führen. Der gestiegene Druck in Kombination mit der fehlenden Resilienz führt daher leider auch auf zu einem häufigeren Ausfall der jungen Auszubildenden. Ich denke, daran zu arbeiten und eine höhere Resilienzfähigkeit aufzubauen, wird die größte Herausforderung in dieser Generation.

Haben sich die Anforderungen verändert, seit du selbst die Ausbildung gemacht hast?

Definitiv! Das liegt nicht nur an der neuen Ausbildung zur Pflegefachperson, sondern auch an den Rahmenbedingungen, in den wir gerade Ausbildung gestalten. Viele Einrichtungen haben sich bis heute leider noch nicht auf die neue Ausbildung eingerichtet und sind dann oft darüber enttäuscht, was die Auszubildenden können und was eben auch nicht. An dieser Stelle bedarf es noch viel Aufklärung. Besonders positiv empfinde ich aber die Entwicklung in der Praxisanleitung. Hier hat der gesetzlich verankerte Anspruch auf 10% Anleitungszeiten in vielen Einrichtungen zu einem Überdenken geführt. Dieses Maß an Praxisanleitung habe ich in meiner Ausbildung nicht erfahren.

Welche Unterstützung und Entwicklungsmöglichkeiten bietet ihr den Auszubildenden in eurer Einrichtung?

Die große Herausforderung in der heutigen Ausbildung sind die häufigen Abwesenheiten bei externen Einsätzen unserer Auszubildenden. Daher gilt es von Anfang an einen engen Kontakt zu halten. Diese Aufgabe übernehmen bei uns die freigestellten Praxisanleiter*innen, beginnend mit einem Kennenlerntag kurz vor Ausbildungsstart. Zusätzlich bieten wir allen Auszubildenden alle zwei Wochen einen Praxistheorietag. An diesem Tag bekommen die Auszubildenden von Praxisanleitenden der Stationen Themen nähergebracht. Beispielsweise chirurgische Pflege oder Pflege in der Notfallambulanz. Dort erlernen Sie noch zusätzlichen Wissen aus der Praxis, welches für den Theorie-Praxis-Transfer sehr wichtig ist. Zum Ende der Ausbildung erhalten die Auszubildenen, ein Personalentwicklungsgespräch, bei dem die persönlichen Pläne und die Möglichkeiten bei uns in der Einrichtung thematisiert werden.

Der Karriereweg in der Pflege ist lang und verlangt viel Beharrlichkeit. Was wirst du deinen Kindern raten, wenn Sie in die Pflege gehen wollen?

Studiert Pflege direkt und hört gut auf die erfahrenen Pflegefachpersonen in den Bereichen. Sie können euch sehr viel beibringen.

Und wenn du das Rad zurückdrehen könntest mit dem Wissen von heute – würdest du wieder eine Karriere in der Pflege starten?

Ja das würde ich! Ich habe bis heute keinen Tag bereut! Ich liebe die Pflege und alles was mit ihr zusammenhängt. Mit dem Wissen und den Möglichkeiten von heute, hätte ich aber wahrscheinlich eine Karriere als APN angestrebt. 

Was braucht eine Führungskraft in der Pflege jetzt?

Die Aufgaben der Führungskräfte in der Pflege haben sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Heutzutage ist jede Stationsleitung schon Manager eines mittleren Unternehmens. Sie sollen beim Verweildauermanagement unterstützen, Tertiärbereiche wie Reinigung, Logistik etc. koordinieren und generell die Abläufe auf Station organisieren. Hinzu kommt, dass aufgrund der gesetzlichen Regelung der PPUG und der PPR 2.0 auch immer mehr Personal auf den Stationen ist, welches geführt werden möchte und Anforderungen an die Personalplanung mitbringt. An dieser Stelle sei der Generationenmix nur als eine besondere Herausforderung erwähnt. Auch hier Bedarf es neuen Methoden und Skills in der Mitarbeiterführung.

Du setzt dich für eine selbstbewusste Pflege ein, Eigenverantwortung und Mitbestimmung. Ist es das, worum es geht?

Ja, zu einem großen Teil, aber nicht nur. Natürlich muss Pflege über sich selbst und ihre Themen berufspolitisch bestimmen dürfen. Dazu brauchen wir dringend mehr Pflegekammern, die über die Qualität der Arbeit bestimmen und auch beispielsweise Handlungsleitfäden definieren. Aber mir geht es auch um die Haltung der Pflegefachpersonen selbst. Denn die Berufsgruppe muss sich auch selber wertschätzen lernen. Auch dies ist ein wichtiger Aspekt, um den Blick auf den Beruf zu verändern. Wir müssen aufhören, unsere eigene Profession schlecht zu reden.

Du hast einmal in einem Interview gesagt, man sollte den Pflegeberuf nicht so schlecht reden, weil das Interessierte abschreckt. Außerdem forderst du ein höheres Lohnniveau im Vergleich zu den Ärzt*innen.  Was sind Stellschrauben, an denen sich drehen lässt, damit mehr Menschen in der Pflege arbeiten?

Die Gesellschaft und die Politik müssen sich im Klaren darüber sein, dass die Versorgung der Menschen in Deutschland, so wie sie heute organisiert ist, nicht mehr lange funktioniert. Der Pflegeberuf kann aber ein Schlüssel in dieser Fragestellung sein, so wie es sich schon in vielen anderen Ländern zeigt. Dazu gehört aber, dass man den Pflegenden mehr Kompetenzen überträgt und der Weg der Akademisierung auch staatlich unterstützt wird. Es kann nicht sein, dass Pflegende, wenn sie nach ihrer Ausbildung studieren wollen, Studiengebühren von bis zu 15.000 € pro Studienabschluss (Bachelor oder Master) zahlen müssen. Damit schafft man keinen Anreiz. Im Gegenzug ist es aber absolut richtig gewesen, auch den Studierenden in der Primärqualifizierung ein Ausbildungsgehalt analog der berufsschulischen Ausbildung zu zahlen. Hier zeigen sich schon die ersten positiven Auswirkungen, indem mehr junge Menschen ein Studium begonnen haben als noch vor zwei Jahren. In diese Richtung müssen wir weiterdenken. Und mit höheren Berufsabschlüssen steigt auch automatisch die Vergütung und die Attraktivität des Berufs.

Bist du, was die nächsten Jahre angeht, positiv oder negativ gestimmt?

Es kommt auf den Tag an, an dem du mich fragst - nein, Scherz beiseite. Ich schaue aus berufspolitischer Sicht sehr positiv in die Zukunft. Das Thema Pflege kommt immer mehr im gesellschaftlichen Diskurs an. Es wird immer mehr darüber diskutiert, was Pflege wirklich leisten kann. Es könnte gerne schneller gehen, aber ich denke, wir sind auf dem richtigen Weg. Anders sieht es bei der Krankenhauspolitik aus. Hier sind zum Teil richtige Entscheidungen getroffen worden, aber leider auch einige ganz falsche. Die Idee, durch die aktuellen politischen Entscheidungen etwas ökonomischen Druck aus dem Gesundheitssystem zu nehmen, ist aus meiner Sicht vollkommen schiefgelaufen. Es zeigt sich, dass in allen Krankenhäusern der Leistungsdruck noch weiter gestiegen ist, um nicht als Verlierer der Reform herauszugehen. Das führt zu einer deutlichen Arbeitsverdichtung bei den Mitarbeitenden. Hier muss dringend nachgebessert werden, ansonsten wird das zu einem Verlust von wertvollen Mitarbeitenden führen.

Was wünschst du dir zum Tag der Pflegenden?

Dass die Pflegenden lernen, sich selbst und ihre Arbeit zu schätzen! Und von der Politik wünsche ich mir mehr Mut, für die Pflegethemen einzustehen und den Gegenwind der anderen Interessenvertreter*innen auszuhalten. Denn ohne Pflege, die mehr Handlungsspielräume und Mitbestimmung bekommt, wird die Versorgung der Menschen in Deutschland zukünftig nicht mehr möglich sein. Die Pflege ist das Rückgrat der Gesundheitsversorgung in Deutschland.

 

Dr. Jörg Kurmann, geboren am 16. Februar 1981 in Würselen, ist verheiratet und hat drei Kinder. Er ist seit August 2022 Pflegedirektor im St. Antonius Hospital in Eschweiler und zudem Auditor Pflegeattraktiv bei PflegeZert. Neben seiner beruflichen Tätigkeit engagiert sich Dr. Kurmann ehrenamtlich, unter anderem als Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Pflegemanagement des DBfK und als Mitglied im Finanzausschuss der Pflegekammer NRW.