Stellschrauben für eine bessere Gesundheitsversorgung

Stellschrauben für eine bessere Gesundheitsversorgung

Seit geraumer Zeit wird im Gesundheitswesen der Begriff Value-based Healthcare – nutzenbasierte Gesundheitsheitsversorgung – heiß diskutiert. Im Kern bedeutet er, dass sich Therapien am individuellen Nutzen und den Bedürfnissen der Patient:innen ausrichten. Dafür müssen die Ergebnisse medizinischer Leistungen zwingend gemessen werden – auch und vor allem aus der Patientenperspektive. Dass die „Ergebnisorientierung im Gesundheitswesen“ in Deutschland Nachholbedarf hat, zeigte sich bei einer gemeinsamen Veranstaltung der B. Braun-Stiftung und der OptiMedis AG am 17. Januar 2023 in Berlin. Es wurden aber auch Wege hin zu einer besseren Gesundheitsversorgung aufgezeigt.

Fotos: Regina Sablotny

Kein anderes Land in Europa steckt mehr Geld in sein Gesundheitssystem als Deutschland.  Doch trotz der hohen Kosten ist der Gesundheitszustand der Deutschen bestenfalls EU-Durchschnitt, bei vielen Krankheiten hinken wir unseren Nachbarländern hinterher. [1]   

Angesichts dieser Diskrepanz initiierten die B. Braun-Stiftung und die OptiMedis AG im vergangenen Jahr im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung den „Berliner Aufruf für mehr Patientennutzen im Gesundheitswesen“. Gemeinsam mit zahlreichen Expertinnen und Experten fordern sie darin, gesundheitliche Versorgungsleistungen sehr viel stärker als bisher hinsichtlich ihres Nutzens für die Patient:innen zu messen und zu bewerten. Am 17. Januar 2023 fand die Folgeveranstaltung zur „Ergebnisorientierung im Gesundheitswesen“ statt. Wie das deutsche Gesundheitssystem in dieser Hinsicht aufgestellt ist, stand ebenso auf der Agenda wie ein Blick über den Tellerrand auf Gesundheitssysteme anderer Länder. Die Ergebnisse der Vorträge und Diskussionen fließen in ein Thesenpapier, das erarbeitet wird und den „Berliner Aufruf“ ergänzen soll.

„„Der ultimative Maßstab für die Beurteilung der Qualität einer medizinischen Behandlung ist, ob sie den Patienten (und ihren Familien) aus ihrer Sicht hilft. Alles, was im Gesundheitssystem getan wird und dem Patienten oder der Familie nicht hilft, ist per definitionem Verschwendung, unabhängig davon, ob es die Berufsgruppen und ihre Verbände traditionell als heilig ansehen oder nicht.“ “

– Professor Donald Berwick, US-amerikanischer Arzt und Gesundheitspolitiker, ehemaliger Präsident und Geschäftsführer des Institute for Healthcare Improvement

Der Patientennutzen im Mittelpunkt

Dass die Gesundheitsversorgung stärker als bisher am Patientennutzen ausgerichtet werden sollte, konstatierte Dr. Konstanze Blatt, Leiterin Fachbereich Befragung am Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG). Versorgungsergebnisse würden bislang meist an klinischen Parametern festgemacht. Der Nutzen aus Patientensicht könne jedoch etwas völlig anderes sein als das, was Mediziner als Behandlungserfolg definieren. Aufschluss darüber könnten PROMs und PREMs geben. PROM steht für „Patient-reported Outcome Measure“, die Dokumentation des Gesundheitszustandes einer Patientin oder eines Patienten auf Grundlage ihrer oder seiner eigenen Einschätzung. PREMs sind „Patient-reported Experience Measures“, Informationen über die Erfahrungen, die ein Patient im Zusammenhang mit einer Behandlung gemacht hat, beispielsweise mit der Arzt-Patienten-Kommunikation. Insbesondere PROMs ermöglichen Erkenntnisse zu den potenziellen Gesundheitsgewinnen und Risiken einer Behandlung. Sie unterstützen bei Therapieentscheidungen oder können in Behandlungspfade und Leitlinien einfließen. „Deutschland ist in dieser Hinsicht allerdings noch Entwicklungsland“, sagte Konstanze Blatt. Zwar gebe es einzelne Initiativen oder Kliniken, die PROMs und PREMs erheben, eine flächendeckende systematische Erfassung der Patientenperspektive gebe es jedoch noch nicht.

Doch ein Umschwung ist im Gange. Seit kurzem fließen Patientenbefragungen in die externe Qualitätssicherung ein. Die Qualitätssicherungsverfahren (QS-Verfahren), die das IQTIG im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses entwickelt, fokussierten bislang auf „Patientensicherheit“ und „Wirksamkeit“ – und zwar ausschließlich aus Sicht der Leistungserbringer. Für einige QS-Verfahren gibt es nun validierte Fragebögen, auf denen die Patienten angeben können, wie es ihnen mit der Behandlung geht. Die Entwicklung dieser Fragebögen ist langwierig: Sie durchlaufen einen mehrstufigen Prozess, der aus einer Literaturrecherche, Gruppendiskussionen und Interviews mit Patient:innen besteht. Auch Ärzt:innen, Pflegefachpersonen oder Therapeut:innen werden über Fokusgruppen und Interviews eingebunden. Ein Expertengremium, das sich ebenfalls aus Patient:innen, Angehörigen, den beteiligten Gesundheitsprofessionen und Wissenschaftler:innen zusammensetzt, steht den Fokusgruppen beratend zur Seite. „Das Ganze ist nicht trivial“, unterstrich Konstanze Blatt. „Wenn es das wäre, würden wir das alle mehr machen.“ Immerhin eine Patientenbefragung für das QS-Verfahren Perkutane Koronarintervention (PCI) und Koronarangiographie (QS PCI) ist seit dem 1. Juli 2022 im Regelbetrieb. „Ein echter Meilenstein“, sagte Konstanze Blatt. Weitere Fragebögen sind in der Pipeline. 

High Value Care: bessere Versorgung ohne Verschwendung

Marion Grote-Westrick, Senior Project Manager im Programm Gesundheit der Bertelsmann Stiftung, sprach anschließend darüber, welche Rolle die Ergebnisorientierung für eine hochwertige Gesundheitsversorgung – High Value Care – spielt. High Value Care im weitesten Sinne ziele darauf, die Gesundheit zu verbessern, niemandem zu schaden und verschwenderische Praktiken abzuschaffen – also beispielsweise keine Therapien durchzuführen, die nichts bringen oder gar schaden.

„PROMs könnten auf vielfältige Weise dazu beitragen, High Value Care zu erreichen“, sagte Marion Grote-Westrick. Da sie verdeutlichen, wie es einem Patienten aktuell geht, können sie dabei helfen, die laufende Therapie anzupassen, die Arzt-Patienten-Kommunikation zu stärken und das Patient Empowerment zu erhöhen. Sie können darüber hinaus für die externe Qualitätssicherung oder die öffentliche Berichterstattung genutzt werden; oder für die Weiterentwicklung von Behandlungspfaden und Leitlinien. Allerdings bedürfe es in Deutschland einer Standardisierung und des dafür erforderlichen politischen Willens, schloss Grote-Westrick, „anderenfalls entsteht ein Flickenteppich verschiedener PROM-Initiativen. Ein flächendeckender Qualitätsvergleich ist damit nicht möglich.“ 

„Die B. Braun-Stiftung hat sich der Verbesserung der Gesundheitsversorgung verschrieben. Seit Jahren begleitet sie unter anderem die Diskussionen über Methoden und Prozesse der Nutzenbewertung in der Medizintechnik mit einem eigenen Veranstaltungsformat. Dies setzt sich nun mit einer Veranstaltungsreihe zur Ergebnisorientierung im Gesundheitswesen fort – gemeinsam mit OptiMedis, einem Unternehmen für Management, Forschung und Analytik im Gesundheitswesen. OptiMedis entwickelt seit vielen Jahren evidenzbasierte Strukturen und Interventionen für eine patientenorientierte und sektorenübergreifende Versorgung – immer mit Blick auf den Outcome, also auf die Messung und Bewertung von Leistungen hinsichtlich ihres Nutzens für die Bevölkerung. Die dritte Veranstaltung der Reihe ist für Herbst 2023 in Berlin geplant. “

– Dr. Thilo Brinkmann, Geschäftsführung B. Braun-Stiftung

Blick über den Tellerrand

Dr. Oliver Gröne, stellvertretender Vorstandsvorsitzender von OptiMedis, schilderte, wo das deutsche Gesundheitssystem im internationalen Vergleich steht. Einerseits schneide Deutschland sehr gut ab: Es gewährt ausnahmslos allen Bürger:innen Zugang zur medizinischen Versorgung, die mit den Leistungen im Allgemeinen auch sehr zufrieden sind. „Bei der Versorgungsqualität hingegen kommen wir aus dem Mittelfeld nicht heraus“, konstatierte Gröne, „und auch im Hinblick auf Prävention haben wir hohen Nachholbedarf.“

Im Ausland gebe es interessante Ansätze für eine stärkere Ergebnisorientierung, etwa das NHS Outcomes Framework, das neben sehr klaren Qualitätsindikatoren auch Ziele für die Ergebnisqualität vorgibt. Außerdem stellte Oliver Gröne Pilotprojekte zu alternativen, populationsbasierten Vergütungsmodellen in den Niederlanden vor. Im Projekt Arts en Zorg beispielsweise übernehmen die Hausarztpraxen die Verantwortung für die Gesamtausgaben ihrer Patient:inen. Bereits nach ein bis zwei Jahren habe dies zu geringeren Kosten geführt: Die Ärzt:innen verschreiben weniger Medikamente und vermeiden unnötige Überweisungen – ohne dass ihre Behandlungsergebnisse darunter gelitten hätten.

An die Impulsvorträge schlossen sich drei Workshops an, in denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer anhand von Umsetzungsbeispielen diskutierten, wo Ergebnisorientierung in Deutschland bereits gelebt wird.  

„Never miss a good crisis“

In der abschließenden Paneldiskussion, die Dr. Oliver Gröne moderierte, saßen neben den Workshop-Leiter:innen Dr. Valerie Kirchberger, Prof. Dr. Dr. Edmund Neugebauer und Martin Spegel noch Dr. Thomas Lipp, Delegierter der Sächsichen Landesärztekammer und Dr. Benedikt Simon, Chief Officer Integrated and Digital Care bei der Asklepios Kliniken Gruppe, auf dem Podium. Prof. Dr. Dr. Neugebauer betonte, dass das 40 Jahre alte SGB V den neuen Strukturen und Anforderungen des Gesundheitswesen nicht gerecht werde. „Wir müssen aus der Selbstverwaltung, in der jeder Akteur seine eigene Agenda verfolgt, eine Selbstorganisation machen, die eine echte Beteiligung der Patient:innen ermöglicht.“ Dr. Valerie Kirchberger stellte fest: „Wir haben kein Erkenntnis - oder Technik-Problem, wir haben ein Kulturproblem. Wir müssen endlich anfangen, unser Wissen umzusetzen – nur so können wir die Versorgung verbessern und dabei Ressourcen schonen.“ Auch Martin Spegel forderte eine stärkere Patientenzentriertheit: „Wir müssen uns auf die Bedürfnisse der Patient:innen besinnen. Wir brauchen ein gemeinsames Verständnis, was Ergebnisqualität ist, und wir müssen kooperativ im Sinne der Patient:innen handeln.“ Dr. Thomas Lipp zeigte sich bezüglich der Worte seiner Vorredner:innen skeptisch: „Wir haben vor 30 Jahren schon über die gleichen Fragen diskutiert, und im Wesentlichen hat sich nichts geändert.“ Als eine wesentliche Barriere benannte er die Misstrauenskultur im Gesundheitswesen. Es sei fast schon beschämend, wie wenig von der Selbstverwaltung in den vergangenen Jahren bewegt worden sei, räumte Martin Spegel ein. Dr. Valerie Kirchberger jedoch versprühte Aufbruchsstimmung: Vor zehn Jahren seien die Fronten wesentlich härter gewesen; im Rahmen von Qualitätsverträgen kämen mittlerweile Krankenhäuser und Krankenkassen an einen Tisch und würden gemeinsam nach kreativen Lösungen suchen.

Dr. Benedikt Simon unterstrich die Bedeutung neuer Vergütungsformen: „Wir brauchen neue Anreizmechanismen, denn solange sich die Vergütung am Volumen orientiert, wird sich nichts ändern.“ Würde nicht nach Fallzahl, sondern nach Qualität bezahlt, könnten 20 Prozent der Krankenhausbetten sofort gestrichen werden. Gleiches gelte für den ambulanten Bereich, fügte Dr. Lipp hinzu. Viele Patient:innen müssten vierteljährlich in die Praxis einbestellt werden, ohne dass dies erforderlich sei. „Ich würde sie lieber weniger häufig sehen und dafür mehr Zeit für sie haben – das bezahlt mir aber keiner“, beklagte der Allgemeinmediziner.

In diesem Zusammenhang kam die Sprache auch auf die Themen Patient Empowerment und Prävention. Einigkeit herrschte, dass die Gesundheitskompetenz der Menschen gesteigert werden müsse. Auch dazu könnten PROMs beitragen, weil sie die Arzt-Patientenkommunikation stärken.

Alles in allem hätten die Diskutierenden sicher noch lange reden können. Eins wurde klar: Es ist viel zu tun. Doch nach der Coronapandemie, mitten in der Energiekrise und angesichts des Fachkräftemangels bleibt nichts anderes übrig, als die Dinge in Angriff zu nehmen. Dr. Valerie Kirchberger brachte es auf den Punkt: Never miss a good crisis.“

Details, auch zu den Workshops, gibt es auch unter www.optimedis.de sowie hier auf der Website unter Veranstaltungen. Den Bericht zum Download finden Sie hier.

Literatur

[1] OECD: Health at a Glance: Europe 2022 – State of Health in the EU Cycle