Integrierte Versorgung – alter Hut oder Lösung für die Zukunft?

Integrierte Versorgung – alter Hut oder Lösung für die Zukunft?

Alumni des Mentoringprogramms der B. Braun-Stiftung – der Gesundheit neue Wege bereiten und der Careum Stiftung haben sich Ende September im Regionalspital Thun über integrierte Gesundheitsversorgung in schwer zu versorgenden Regionen der Schweiz informiert.

Am Beispiel der Schweizer Projekte wurden Lösungen für die Herausforderungen der Gesundheitsversorgung vorgestellt und kritisch reflektiert. Diskutiert wurden Forschungsergebnisse sowie die nötigen Veränderungsprozesse, die auf eine stärkere Patientenzentrierung und eine Kosteneindämmung zielen. Die Veranstaltung bot darüber hinaus Einblicke in international anerkannte Ansätze zur integrierten Versorgung (IV). Dr. Regula Adams ergänzte mit praktischen Beispielen, wie sich Change Management erfolgreich gestalten lässt. „Das Alumni-Treffen war sehr wertvoll und inspirierend. Die vorgestellten Ansätze und Diskussionen geben den Teilnehmenden wertvolle Impulse für die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens, auch in Deutschland“, sagt Prof. Ursina Baumgartner, die das Alumni-Treffen mitorganisiert hatte.

Herausforderungen
Auch in der Schweiz gibt es eine zunehmende Zahl älterer Menschen mit multiplen chronischen Erkrankungen, eine Ausdünnung der ländlichen Regionen und Facharbeitermangel. All das setzt die Gesundheits- und Sozialfürsorge immer stärker unter Druck.

Die Akteure sind sich einig, dass es einer Integration bzw. ganzheitlichen Betrachtung der Gesundheitsversorgung bedarf. Dabei hinkt die Schweiz verglichen mit anderen Ländern hinterher. Gründe sind u. a. der Föderalismus und die vielen Finanzierungsquellen, die Zahl der Krankenversicherer (40), der „Röstigraben“ und nichtkompatible IT-Systeme. Integrierte Versorgungsinitiativen gibt es zahlreiche, insbesondere  für spezifische Zielgruppen (z. B. Diabetes), Mentale Gesundheit und Psychiatrie, aber auch bevölkerungsorientierte Modelle sowie Ärztenetzwerke u. v. m.i

Vom anbieterorientierten zum integrierten bevölkerungsorientierten Gesundheitswesen
In der Schweiz leben 2,2 Millionen Menschen mit chronischen Krankheiten, ein Fünftel der über 50-Jährigen hat eine Multimorbidität mit Bedürfnissen, die professionelle, sektorale und organisationale Grenzen überschreiten. Die Ausgaben dafür sind hoch: 80 % der gesamten direkten Ausgaben der Schweiz von 2011 ca. 51 Milliarden Franken. Das zeigte Prof. Dr. Matthias Mitterlechner von der Universität St. Gallen. Wie das deutsche Gesundheitssystem ist das Schweizer Gesundheitswesen auf die Behandlung akuter Krankheiten ausgerichtet mit einem hohen Grad an Spezialisierung. Es fehlen «Kümmerer», die Kranken, ihre Angehörigen und auch die ambulanten Versorger müssen sich mit oft z. B. widersprüchlichen Therapieempfehlungen auseinandersetzen. Dadurch entstehen vermeidbare Einweisungen in Krankenhaus und Langzeitpflege. Qualität, Effizienz und Outcome sinken.

Voraussetzungen für eine bevölkerungsorientierte Gesundheitsversorgung
Matthias Mitterlechner stellte die fünf wesentlichen Schritte auf dem Weg zu einer integrierten bevölkerungsorientierten Gesundheitsversorgung dar, wie sie sich im Gesundheitsnetz im Unterengadin bewährt haben.ii

1: Eine organisationsübergreifende Kommunikationsarchitektur aufbauen und entwickeln
2: “Erkunden” statt “Umsetzen” (keine Patentrezepte)
3: Symmetrische Transparenz
4: Visualisierung von Wertschöpfungsprozessen (Beispiel Spitalaustritt)
5: Beziehungen gestalten

Vorteile einer integrierten Versorgung
Mitterlechner verweist auf die Komplexität und Abhängigkeiten, die in IV-Modellen entstehen, aber auch auf die Vorteile. Beim Aufbau einer Gesundheitsregion sind z. B. verschiedene Ebenen zu berücksichtigen, die sich gegenseitig  beeinflussen. Dazu zählen die Vorgeschichte der Teilnehmenden, Vergütungsmodelle bzw. politische Wünsche, Lage sowie die Bevölkerungsstruktur. Hinzu kommen finanzielle und personelle Ressourcen, IT-Systeme und natürlich das Führungsteam bzw. Rechtsform. Dass  eine integrierte bevölkerungsorientierte Versorgungsstruktur erfolgreich sei kann, zeigte der Wissenschaftler mit einer Evaluation des Kantons Graubünden. Der Kanton erreichtet eine bessere Patientenzentrierung und erzielte damit noch Kostenvorteile bis zu 30 % durch Vernetzung, flexibles Personalmanagement und Innovationskraft. Graubünden erreichte zusätzlich eine höhere Standortqualität mit neuen Arbeitsplatzoptionen.

Value in Health Care
Herausforderungen entstehen immer dann, wenn ein Fall von der Normalität abweicht. „Fragmentierung macht das Gesundheitssystem leistungsfähig, entfernt es aber auch vom Menschen und versagt bei komplexen Erkrankungen.“ sagt Prof. Dr. med. Christina Venzin vom College M. "Ärzt*innen haben den Überblick verloren, über die Handlungsoptionen, die es für Patient*innen gibt.“ Zusätzlich werde die Schere zwischen medizinischen Therapieoptionen und Vergütungsmöglichkeiten immer größer.

Auch der Wert einer Gesundheitsleistung ist intransparent. So haben Krankenhäuser und Arztpraxen keine Ahnung darüber, welchen Mehrwert sie für Patient*innen kreieren.iii Die geeignete Einheit zur Messung des Mehrwertes sollte alle Dienstleistungen oder Aktivitäten umfassen, die den Erfolg bei der Erfüllung von Patientenbedürfnissen bestimmen.  

Venzin plädiert für die IV, aber differenziert. So müssten regionale Unterschiede mitgedacht werden: Dazu zählen auch settingspezifische Pauschalen vor „fee-for-service“. Außerdem plädiert sie dafür, das Bewusstsein bzw. integrative Denken in der Ausbildung von med. Berufen zu schulen und Patient*innen in Führungsgremien bzw. Forschungsfragen zu involvieren.

Regional denken: Modelle mit unterschiedlichen Herausforderungen
In der Schweiz gibt es inzwischen zahlreiche regionale Gesundheitszentren, die auf die Bedürfnisse angepasst, integrierte Versorgungsmodelle entwickeln. In diesen Gesundheitsregionen sollen in der Schweiz Lösungen weg von der Fragmentierung der Medizin hin zu einer ganzheitlichen, patientennahen Versorgung entwickelt werden.

1. Kommunikation bringt Erfolg: Gesundheitsnetz Simme Saane
Sarah Stölting, Leiterin Entwicklung und Projektmanagement, STS AG in Thun, legte die Herausforderungen dar, die bei der Etablierung des Gesundheitsnetzes Simme Saane aufgetreten sind. Für die SpitalSTSAG hat die integrierte Versorgung das Ziel, Menschen präventive und kurative Dienstleistungen anzubieten, die sich nach ihren jeweiligen Bedürfnissen in den jeweiligen Sparten des Gesundheitssystems richten. Der Kanton Bern ist verantwortlich (Kantonsverfassung) für Planung und Umsetzung, gibt die Spielregeln vor (Spitalversorgungsgesetz).

Die Region Simmental-Saanenland entspricht einer ländlichen, touristisch geprägten Bergregion in kantonaler Grenzlage im Berner Oberland mit Fachkräftemangel, saisonalen Unterschieden in der Nachfrage durch Tourismus, starkem wirtschaftlichem Druck durch ältere Bevölkerung, gesetzlich verordneter Ambulantisierung mit unterfinanzierten Tarifen, Anpassung der Vergütung der stationären Leistungen, Rückgang Zusatzversicherte, Zunahme Wettbewerb. Neu hinzu kommen wie überall die Auswirkungen der Pandemie, des Ukrainekriegs, der Inflation.

Die Funktion der Spitäler muss zusammen mit den ambulanten Strukturen betrachtet und gemeinsame Lösungen entwickelt werden. Das ist schwierig: „Zwar ist Integrierte Versorgung sozial erwünscht, jeder will aber sein Krankenhaus behalten“, meint Stölting. Das zeigte dann die Volksabstimmung für das Gesundheitsnetz, bei dem ein Akutspital in Zweistimmen erhalten werden sollte. Sie führte nicht zu einem eindeutigen Ergebnis. Mitte November wird deshalb erneut abgestimmt.  Stöltings Empfehlungen zur Gestaltung erfolgreicher Veränderungsprozesse sind: Ein belastbares Führungsteam müsse eine Veränderungsstruktur schaffen, die kleine revisionsmögliche Schritte und transparente Entscheidungsoptionen zulässt. Weiterhin wichtig sei der Respekt gegenüber der Autonomie der Netzwerkpartner mit frühzeitiger Einbeziehung der Health Professionals und des politischen Umfeldes.

2. Bergregion generiert Erlössteigerungen und setzt auf Prävention
Was in anderen Regionen noch teilweise in Planung ist, hat Dr. med. Maria Magnini, leitende Hausärztin des Gesundheitszentrums Bergell/Bregaglia, bereits umgesetzt. Das Gesundheitszentrum ist als öffentlich rechtliche Institution ausreichend finanziert. Es wird von 1.600 Ansässigen, Grenzgänger*innen und Tourist*innen genutzt.

Das seit 2016 aus dem Krankenhaus entwickelte Centro Sanitario Bregalia integriert die Akutversorgung und die Heimpflege. Zusätzlich gibt es eine ambulante Pflegebetreuung, eine Apotheke, eine Arztpraxis mit Unterstützung von Fachpersonal der Psychologie, Kardiologie, Gynäkologie und der Traditionell Chinesischen Medizin. Außerdem gibt es Präventionsangebote. Erste Erfolge können verzeichnet werden. So hätten in der Region die akuten Fälle von 2021 zu 22 zwar nicht abgenommen, die Pflegetage seien aber um fast 50 Prozent gesunken, berichtet die Ärztin. Der Trend der kürzeren Verweildauer sei auf weniger schwere Behandlungsfälle zurückzuführen. Insgesamt habe man die Patientenzahl steigern können. Der Gesamterlös sei um 5 Prozent gestiegen.

3. APN eine Lösung? Rolle & Ziele einer adäquaten Altersmedizin in der Langzeitpflege
Neue Berufsbilder können die Integrierte Versorgung an den Schnittstellen unterstützen. Die gemeinsame Herangehensweise unterschiedlicher Gesundheitsberufe lassen eine finanzierbare und qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung entstehen. Andrea Käppeli, Pflegeexpertin APN-CH, vom Gesundheitsplatz Muri, spricht über die Rolle einer Advanced Practitioner Nurse als mögliche Lösung für die Langzeitversorgung. Zunehmend gibt es mehr APN in der ambulanten Versorgung, wenn auch noch bei ungesicherter Finanzierung. Die Reglementierung von APN in der Schweiz ist seit 2019 in Kraft.

Auch in der Gesundheitsregion Freiamt/Muri mit 36.500 Einwohner*innen soll eine integrierte und vernetzte Versorgung etabliert werden, indem das Krankenhaus die Gesundheitsversorgung von zwei Alters- und Pflegeheimen sicherstellt und die Ambulante Pflege mit den Heimen gemeinsame Dienstleistungen entwickelt. Außerdem unterstützt der Kanton ein interprofessionelles Hausarztpraxis-Projekt. „Es braucht kreative und mutige Projekte für die vernetzte Gesundheitsversorgung von schwer zu versorgenden Regionen“, sagt Andrea Käppeli, Pflegeexpertin APN-CH vom Gesundheitsplatz Muri.

Nähe zu Patient*innen bzw. Heimbewohner*innen
Eine holistische, integrative und evidenzbasierte geriatrische Versorgung senkt Mortalität und Pflegegrad. Um die Autonomie und Selbstbestimmtheit so lange wie möglich zu erhalten und vermeidbare Hospitalisationen zu reduzieren, setzt Muri auf Prävention wie z. B. Sturz- und Frailtyprophylaxe, Schutz vor Infektionen, Reduktion von unerwünschten Medikamentennebenwirkungen oder Polymedikation sowie Früherkennung kognitiver Defizite und sozialer Isolation. Entsprechend den Zielen ist Andrea Käppeli im medizinischen Team des "Ambulatorium Löwen" im Pflegimuri, einem Pflegeheim mit 220 Plätzen, tätig. Dort hat sie zwei Funktionen: 55 % ist sie als APN in der medizinischen Grundversorgung und 25 % als Pflegeexpertin (Clinical Nurse Specialist) mit Fachverantwortung eingesetzt. Sie berichtet direkt an den Chefarzt. Das Aufgabenspektrum umfasst u. a. auch Assessments, Untersuchungen sowie Verordnungen.

Blick in das Vereinigte Königreich: Integrierte Versorgung in England
Prof. Dr. Axel Kähne von der Edge Hill University gab einen Überblick über die Forschung. Auch wenn sich - so der Wissenschaftler - die integrierte Versorgung politischer Unterstützung und finanzieller Förderung erfreue, sei die Evidenz über ein besseres Patient*innen Outcome begrenzt und ließe sich schwer von anderen Effekten trennen. Es gäbe oft nur die Reduktion von Kostensteigerungen und das erst nach 5 bis 8 Jahren. Integrierte Initiativen fokussierten sich häufig auf mehr Effektivität statt auf die Kranken und ihre Bedürfnisse.

Für den in England lehrenden Kähne geht es in der Implementierung von integrierter Versorgung um Change Management. Durch die Fragmentierung der Medizin entstehen Koordinationsprobleme über Professionen und Organisationsgrenzen hinweg. Veränderungen seien schwer durchzusetzen und verlangten dem Personal sowohl kognitiv als auch organisationspraktisch enorme Leistungen ab. Integrierte Versorgung lässt sich nach Kähne am besten als ein sich entwickelndes Bündel von Praktiken verstehen, das durch kontextuelle Faktoren geprägt ist, und nicht als eine einzelne Intervention zur Erzielung vorgegebener Ergebnisse. „Um integrierte Versorgung flächendeckend einzuführen, muss in der Implementierung mit Komplexität und Unsicherheit besser umgegangen werden.“ Außerdem müsse die Evidenz besser werden, um Wissenslücken zu schließen.

England fördert seit 10 Jahren integrierte Gesundheitsversorgung, allerdings so Kähne, schließt es die Öffentliche Gesundheit (public health) nicht ein. Neue Ansätze gingen in Richtung Digitalisierung, Populationsanalysen und Risikostratifizierung. Derzeit hat der NHS zwei verschiedene strukturelle Ansätze von integrierter Versorgung etabliert:  

a) Integrated care pioneers: Das Pioneers-Programm ist eine Zusammenarbeit zwischen den 25 lokalen Pionierstandorten und den nationalen Partner*innen im Gesundheits- und Pflegebereich.iv Zu den Pioniergemeinschaften gehören: Gemeinden mit internationalen Pflegemodellen North West Leicestershire, Leeds, Greater Manchester.
b) Vanguard Programm: Das Programm des NHS England zur Integration von Gesundheits- und Sozialfürsorgediensten hat den Anstieg der Notfalleinweisungen von Pflegeheimbewohnern in Krankenhäuser zwar verlangsamt, aber seine anderen Ziele nicht erreicht.v

 

i Integrated care in Switzerland: Results from the first nationwide survey. Health Policy. 2018
ii https://cseb.ch/philosophie/ Seit dem Jahr 2007 haben sich im Unterengadin die wichtigsten Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen unter dem Motto „Alles aus einer Hand“ zu einem Gesundheitszentrums zusammengeschlossen. Aufgrund der touristischen Ausrichtung der Region wurde auch das Wellnessbad mit einer Rehabilitationseinheit und seinen angegliederten Sport-Betrieben in die Organisation integriert.
iii Michael E. Porter, Ph.D., What is Value in Health Care
iv https://www.england.nhs.uk/integrated-care-pioneers/
v The Vanguard programme to integrate health and social care achieved some of its aims but took time to show an effect (nihr.ac.uk)