Digitale Innovationen in der Pflege: „Wir stehen unter Zeitdruck“
Was können Robotik und Künstliche Intelligenz künftig in der Pflege leisten? Wo sind Chancen und Grenzen? Und was ist die Rolle der Pflegenden? Ein Gespräch über die Zukunft digitaler Innovationen mit Prof. Dr. Patrick Jahn aus Halle.
Herr Professor Jahn, wo steht Deutschland im Bereich der digitalen Innovationen auf einer Skala von 1 – ganz schlecht – bis 10 – optimal?
Ich denke – so pauschal gesagt –, sind wir irgendwo im Mittelfeld. Die Ausgangssituation ist gut: Die Pflegenden bringen eine hohe Aufgeschlossenheit für digitale Innovationen mit und Einrichtungen beginnen, in diesen Bereich zu investieren – auch finanziell gefördert durch die Politik. Wo es in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern am meisten hängt: Die vorhandenen digitalen Systeme sind untereinander noch nicht ausreichend vernetzt.
Was bedeutet das?
Wir haben in den einzelnen Einrichtungen, vor allem in den Kliniken, zwar oftmals ein hohes Maß an digitaler Dokumentation erreicht, aber noch häufig können diese Daten nicht miteinander geteilt werden. Ein großer Vorteil der Digitalisierung wäre ja, diese Daten für alle Sektoren zugänglich zu machen und durch die gemeinsame Nutzung auch eine tatsächliche Entlastung zu haben. Im Moment sind wir in einer Zwischenphase, wo viele Dinge doppelt und dreifach erfolgen, weil diese digitale Vernetzung fehlt. Das schafft Frust. Daher braucht es klare Vorgaben, die eine Interoperabilität – also die Fähigkeit eines Systems, mit anderen Systemen zu kommunizieren – forcieren. Hier haben wir gegenüber anderen Ländern noch Nachholbedarf.
Können Sie ein Beispiel nennen, wie so eine digitale Vernetzung aussehen könnte?
An unserer Universität forschen wir zum Beispiel, wie die Zugänglichkeit von Medikamenten in ländlichen Regionen verbessert werden kann. Hier sind mittlerweile drohnen-basierte Medikamentenlieferungen möglich. Eine Drohne von A nach B zu schicken, ist ein einfacher Schritt. Viel herausfordernder ist es, dazu einen vernetzten Versorgungsprozess zu konstruieren – von der digitalen Konsultation mit dem betreuenden Arzt über die Einbindung des ambulanten Pflegedienstes und des Apothekers bis hin zur App, in der die Medikamentenlieferung mit dem Patienten geteilt wird. Erst wenn ein guter, aufeinander abgestimmter Prozess festgelegt ist, bietet eine Medikamentenlieferung mittels Drohne für alle Beteiligten einen wirklichen Mehrwert.
Wie könnten Pflegende davon profitieren?
Bei der Medikamentenversorgung von Palliativpatient:innen könnten Drohnen zum Beispiel als schneller Zustellungsweg eingesetzt werden. Dazu planen wir gerade ein Projekt in Dessau und Umgebung. Die beteiligten Pflegenden haben uns zurückgemeldet, dass ein solcher Einsatz eine große Entlastung für sie wäre. Oft merken sie vor Ort in der Häuslichkeit, dass der Patient auf die Schnelle ein Medikament benötigt. Dann müssen die Pflegenden entweder selbst ins Auto steigen, um das Medikament aus der Apotheke zu holen, oder einen Kollegen oder die Angehörigen bitten. Ein Drohneneinsatz könnte also eine Menge Zeit sparen und wäre somit eine wichtige Entlastung für die Pflegenden.
Welche zukunftsweisenden Innovationen gibt es schon jetzt, die Pflegekräfte konkret entlasten können?
In der Pflege werden zum Beispiel Exoskelette eingesetzt. Das sind am Körper getragene Assistenzsysteme, die die Bewegungen des Körpers unterstützen und verstärken. Ein Oberkörper-Exoskelett kann Pflegekräften beispielsweise schweres Heben erleichtern und ihre Kräfte, aber auch den Rücken schonen. Dann gibt es Bettensysteme, die zur Mobilisation eingesetzt werden können. Sie haben eine Sitz- und Aufstehfunktion, die per Knopfdruck betätigt werden kann – das Bett bewegt sich dann selbstständig in die gewünschte Position. Damit kann vielfach eine zweite Pflegekraft bei der Mobilisierung eingespart werden. Auch im Bereich Sensorik gibt es einige sinnvolle Lösungen, die Pflegekräfte konkret entlasten können.
Welche zukunftsweisenden Innovationen gibt es schon jetzt, die Pflegekräfte konkret entlasten können?
In der Pflege werden zum Beispiel Exoskelette eingesetzt. Das sind am Körper getragene Assistenzsysteme, die die Bewegungen des Körpers unterstützen und verstärken. Ein Oberkörper-Exoskelett kann Pflegekräften beispielsweise schweres Heben erleichtern und ihre Kräfte, aber auch den Rücken schonen. Dann gibt es Bettensysteme, die zur Mobilisation eingesetzt werden können. Sie haben eine Sitz- und Aufstehfunktion, die per Knopfdruck betätigt werden kann – das Bett bewegt sich dann selbstständig in die gewünschte Position. Damit kann vielfach eine zweite Pflegekraft bei der Mobilisierung eingespart werden. Auch im Bereich Sensorik gibt es einige sinnvolle Lösungen, die Pflegekräfte konkret entlasten können.
Was können sensorbasierte Systeme?
Es gibt zum Beispiel Sensoren für Bettmatratzen, die registrieren, wenn ein Patient das Bett verlässt. Somit können Pflegekräfte schnell eingreifen und ein Weglaufen oder Stürze verhindern. Diese Systeme sind mittlerweile weit verbreitet und auch keine Zukunftstechnologie mehr. Im Bereich der Inkontinenzversorgung gibt es ein technisches System, mit dem der Füllstand der Harnblase gemessen werden kann. So hat die Pflegekraft eine Übersicht und weiß, bei welchen Patient:innen ein Toilettengang angeboten werden sollte. Oder die Person bekommt die Info auf ihr Smartphone gespielt, sodass sie selbst rechtzeitig die Toilette aufsuchen kann. Das bewirkt eine enorme Verbesserung der Selbstständigkeit und Lebensqualität für die Betroffenen und motiviert natürlich auch die Pflegenden, Patient:innen auf die Toilette zu mobilisieren.
Wird es künftig möglich sein, dass ein Monitoring rein über Künstliche Intelligenz (KI) erfolgt, sodass alle Messwerte, ob Temperatur, Blutdruck oder Atemfrequenz, zentral erhoben und ausgewertet werden?
Das sollte aus meiner Sicht nicht das Ziel sein. Die KI ist dann gut, wenn sie in der Hand der Profis bleibt. Die KI kann diesen Prozess erleichtern, indem sie zum Beispiel einen schnelleren Überblick über verschiedene Vitalparameter verschafft. Vielleicht kann sie auch auf Risikosituationen hinweisen. Es braucht aber eine professionelle Person, die die Informationen in den richtigen Kontext einordnet. Die KI hilft also, relevante Daten schneller zu sondieren, die Entscheidung sollte aber immer bei den Pflegefachpersonen bleiben. Wir sollten die KI als Werkzeug verstehen und nicht als Möglichkeit, unsere Arbeit abzugeben. Mir ist auch aktuell keine KI bekannt, die das leisten kann.
Was wird die Robotik in der Pflege innerhalb der nächsten 10 Jahre leisten können?
Ich denke, dass sich hier in den nächsten 10 Jahren einiges tun wird. Die neue Generation der komplexen Serviceroboter hat ein sehr differenziertes Potenzial. Roboter können in vielen Fällen quasi die helfende Hand ersetzen, zum Beispiel beim Anreichen eines Kleidungsstücks, Waschlappens oder Getränks. Damit ist es möglich, dass Patient:innen mehr Eigenständigkeit bewahren. Der Autonomiegewinn und die individuellen Wünsche der Betroffenen sind dabei zentrale Aspekte: In welchen Bereichen möchten Patient:innen unterstützt werden? Was erwarten sie von technischen Lösungen? Diese Entscheidungen können nicht aus der Pflege getroffen werden, sondern sind nur im Bündnis mit den Patient:innen möglich.
Warum ist die Einbindung der Patient:innen so wichtig?
Technische Systeme und Robotik sollten immer einen assistiven Charakter haben und auf eine konkrete Problemsituation bezogen sein. Dabei ist von pflegerischer Seite zu klären: Ist die geplante Lösung angemessen und wird sie vom Patienten auch gewünscht? Ohne diese Übereinstimmung werden technische Systeme von den Patient:innen nicht akzeptiert werden. Der Patient ist deshalb immer in die Entscheidung für oder gegen bestimmte Technologien einzubeziehen. Und das betrifft nicht nur die Robotik, sondern alle assistiven Technologien wie Bettsysteme oder Sensoren.
Werden Roboter denn künftig auch Essen anreichen oder pflegebedürftige Menschen umpositionieren können?
In 5 bis 10 Jahren könnten wir beim patientenseitigen Einsatz schon einzelne Lösungen haben, zum Beispiel bei der Trinkunterstützung. Allerdings sind Tätigkeiten wie das Anreichen von Nahrung oder das Positionieren eines Menschen hochkomplex – bis ein Roboter das leisten kann, ist es noch ein weiter Weg und es bedarf auch hoher Sicherheitsstandards. Was sehr viel schneller wachsen wird, ist der Bereich der Logistik. Roboter können Essen transportieren, Schränke auffüllen, ganze Bereiche reinigen. Für patientenferne Tätigkeiten gibt es viele Lösungen, die schon da sind, aber noch nicht flächendeckend umgesetzt werden. Wenn man das Logistikpotenzial von Kliniken mit dem der Industrie vergleicht, sehen wir: Da gibt es noch viele ungenutzte Möglichkeiten.
Wo sehen Sie die größten Chancen neuer Technologien?
In Pflegetechnologien, die unmittelbar beim Pflegebedürftigen ansetzen. Sie haben die Chance, Patient:innen zu mehr Autonomie zu verhelfen, und damit geht auch eine Entlastung der Pflegenden einher. Das hat also im doppelten Sinne etwas Gutes. Die Einsicht des Autonomiegewinns muss sich durchsetzen – auch bei den Betroffenen selbst. Sonst können digitale Innovationen viel Abwehr erzeugen. Patient:innen könnten die Sorge haben, dass der Roboter die Pflegenden ersetzt und sie dann nur noch den Roboter und keinen Mensch mehr an der Seite haben.
Was sind die Grenzen neuer Technologien?
Die Grenzen bestehen im Moment noch darin, dass sie vielfach nur einen Teilaspekt realisieren und noch keine komplexen Versorgungsgeschehen aufgreifen. Somit sind wir auf unterschiedliche Technologien angewiesen, die noch nicht gut genug miteinander agieren. Wichtig ist zudem, dass digitale Technologien immer an einem relevanten Gesundheitsproblem ansetzen – und nicht, weil wir die Technik toll finden. Den Nutzen neuer Technologien müssen die Pflegenden gut moderieren können, damit diese Einsicht auch beim Patienten ankommt. Das ist eine neue, wichtige Qualifikation, die Pflegende mitbringen sollten.
Wie viel Zeit bleibt uns, um digitale Innovationen voranzutreiben?
Nicht viel. Wir stehen unter Zeitdruck. Wir sind jetzt schon bei fast 6 Millionen Pflegebedürftigen und müssen uns bis 2060 auf eine Verdopplung vorbereiten. Das bedeutet: Wir müssen dringend technische Anwendungen in der Häuslichkeit fördern, damit Menschen im Alter möglichst autonom und unabhängig bleiben. Noch können wir das gut gestalten. Meine Sorge ist: Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es zu einem späteren Zeitpunkt sehr viel schwieriger werden, gute Lösungen zu finden. Denn der Anforderungsdruck wird steigen. Wir müssen die Zeit, die uns bleibt, also sehr gut nutzen. Die Pflege hat dabei eine entscheidende Rolle.
Wie sieht die Rolle der Pflege aus?
Die pflegerische Versorgung ist – neben dem Klimawandel – eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen der Zukunft. Wie können wir angesichts des demografischen Wandels pflegebedürftige Menschen autonomiefördernd und menschenwürdig versorgen? Für diese zentrale Frage – unter hohem Handlungsdruck – eine Lösung zu finden, wird uns niemand abnehmen können. Diese Form der gesellschaftlichen Verantwortung ist neu für uns. Wir sind gefordert, Rahmenbedingungen zu formulieren, um dieses Problem zu lösen. Das ist unsere Aufgabe in der Gesellschaft.
Interview: Brigitte Teigeler
Prof. Dr. Patrick Jahn ist Pflege- und Gesundheitswissenschaftler und Inhaber der Professur „Versorgungsforschung – Pflege im Krankenhaus“ an der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er gehört dem Kuratorium der B. Braun-Stiftung an und begleitet die jährliche Pflege-Pitch-Session auf der Fortbildung für Pflegende.