"Wir brauchen einen spürbaren Kurswechsel"
Dr. Bernadette Klapper ist seit Oktober letzten Jahres neue Geschäftsführerin des Deutschen Bundesverbandes für Pflegeberufe (DBfK). Der Führungswechsel beim DBfK vollzieht sich in stürmischen Zeiten. Im Interview spricht Bernadette Klapper über den Wert der Pflege, die notwendigen Veränderungen, besonders im ambulanten Sektor, und Ihre Pläne zur Umsetzung.
Frau Klapper, Sie sind seit Oktober letzten Jahres neue Geschäftsführerin des DBfK. Eine neue Regierung, die Pandemie – wie war Ihr Start und was haben Sie sich zuerst vorgenommen?
Am allerwichtigsten ist jetzt ein spürbarer und glaubwürdiger Kurswechsel für die berufliche Pflege. Wir stehen in Deutschland vor einer demografischen Alterung, deren Folgen für die Gesundheitsversorgung wir immer noch zu sehr ausblenden. Es bleiben uns nur wenige Jahre zum Umsteuern. Und das ist entscheidend, denn wir haben massive Personalprobleme in allen Bereichen der Pflege und eine Berufsgruppe, die nach Corona-Applaus und vielen halbherzigen Anläufen kaum noch an wirksame Umsetzungen und Beteuerungen der Politik glaubt.
Mein Start fällt tatsächlich in bewegte Zeiten, im Verband bin ich sehr herzlich aufgenommen worden. Dass jetzt auch eine neue Regierung die Gesundheitsversorgung der nächsten Jahre prägen kann, sehe ich als große Chance. Einer der ersten Schritte wird sein, unter diesen neuen Vorzeichen in die gesundheitspolitische Debatte einzutreten und aufzuzeigen, wie sehr sich Investitionen in die Pflege lohnen, um den anstehenden Herausforderungen zu begegnen.
Pflegemangel ist ein Thema, das kontrovers diskutiert wird. Zahlen, z. B. von der OECD, zeigen, dass es eigentlich genug Pflegende gibt, sie aber nicht richtig verteilt seien, wie viele behaupten. Wie sehen Sie das?
Die Zahlen der OECD zeigen, dass Deutschland im internationalen Vergleich nicht schlecht dasteht. Damit ist aber nicht ausgesagt, dass es genügend Pflegende, auch qualifizierte Pflegefachpersonen, gibt. Denn auch in anderen Ländern werden die Arbeitsbedingungen kritisiert und bereitet die Berufsflucht Sorge. Zum Beispiel war gerade in der Schweiz ein Volksbegehren erfolgreich, dass auf dringende Verbesserungen in der Pflege, u.a. einer Erhöhung der Personalzahlen, abzielt. Dabei ist die Schweiz Spitzenreiter im OECD-Vergleich.
Sicher muss auch geschaut werden, ob die Versorgungsstrukturen bedarfsgerecht angelegt sind und ob die Zahl unserer Krankenhäuser gerechtfertigt ist. Dennoch werden wir aufgrund des demografischen Wandels eine wachsende Zahl an chronisch kranken und alten Menschen zu betreuen haben, dies aber idealerweise kaum in Krankenhäusern. Pflegefachpersonen können hier viel wertvolle Beiträge leisten, um kostspielige Komplikationen zu reduzieren, Situationen zu stabilisieren und ein gutes Leben mit bzw. trotz Krankheit zu ermöglichen.
Manche Länder, wie z. B. die Niederlande etablieren Projekte, die eine wohnortzentrierte Patientenversorgung möglich macht, und damit den Patienten in den Mittelpunkt stellt. Ist dieser Ansatz für Deutschland übertragbar? Gibt es Hoffnung auf Veränderung? Was braucht es dafür?
Auch wir haben spannende Projekte, die genau diese Zielsetzung verfolgen, zum Beispiel die 13 patientenorientierten Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung, die die Robert Bosch Stiftung seit einigen Jahren unter dem Titel PORT fördert. Darin kommt einer neuen pflegerischen Rolle – der Community Health Nurse – eine Schlüsselrolle zu. Diese ist anspruchsvoll, denn sie sichert vorausschauend die Versorgung von Menschen mit Pflegebedarf oder chronischen Erkrankungen im städtischen und ländlichen Raum, stärkt die Gesundheitsförderung und Prävention, übernimmt heilkundliche Aufgaben und verfügt über Entscheidungskompetenz sowie hohe Handlungsautonomie.
Es braucht dazu politischen Willen, die Strukturen im Sinne der Menschen und ihrer Gesundheit anzupassen. Ganz konkret einige gesetzliche Änderungen wie die Zuerkennung der Heilkunde für die Community Health Nurse, eine Vergütung für die Koordinierungsleistungen und einiges mehr. Es braucht aber auch die Einsicht der ärztlichen Kolleg:innen, dass sie Entlastung erfahren und die Versorgungsqualität in einem multiprofessionellen Team deutlich verbessert werden kann.
Die Bundesregierung setzt Signale für die „selbständige Ausübung der Heilberufe“. Dazu zählt das Recht Pflegender (wie bei den Hebammen), selbständig zu verordnen und Leistungen zu delegieren. Welche Berufsbilder sind für Sie essentiell notwendig, um eine moderne, patientenzentrierte Gesundheitsversorgung aufzubauen?
Die Community Health Nurse zählt in jedem Fall dazu. Denn wir müssen Gesundheitsförderung und Prävention enger mit der individuellen Betreuung verzahnen. Das wäre ein neues Public Health Profil. In einem klinischen Profil könnte sie auch die Routineversorgung chronisch Kranker selbständig übernehmen, wie wir es aus anderen Ländern kennen. Eine Öffnung zu mehr Selbständigkeit für die ambulante Pflege würde eine echte Erleichterung für alle Beteiligten bedeuten. Auch die Schulgesundheitspflege würde klar davon profitieren, wenn die Pflegefachperson mehr Eigenständigkeit und Möglichkeiten der Verordnung erhielte. Nicht zu vergessen die spezialisierten Pflegefachpersonen in den Bereichen Wund- und Schmerzmanagement. Segensreich wäre auch ein vermehrter Einsatz von klinisch befähigten Advanced Practice Nurses in der stationären Langzeitpflege, um unnötigen Krankenhauseinweisungen vorzubeugen. Und schließlich wird für eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung von großer Bedeutung sein, diese Profile intelligent mit Digitalisierung zu unterstützen und sie in eine gut funktionierende elektronische Patientenakte einzubinden.
Sie haben die „Community Health Nurse“ jetzt wiederholt genannt. Schon jetzt gibt es Weiterbildungsmöglichkeiten in der ambulanten Pflege (VERAH / NäPA / EVA), die wenig genutzt werden. Warum ist das Ihrer Meinung nach so?
Diese Profile sind keine Profile der ambulanten Pflege, sondern sind eher mit der Rolle der Medizinischen Fachangestellten verbunden. Meine Vermutung wäre, dass diese Profile wenig attraktiv sind, weil sie lediglich eine arztorientierte Assistenz in den bestehenden Strukturen bedeuten.
Der Umbau von unwirtschaftlichen Krankenhausstrukturen in ambulante Gesundheitszentren soll forciert werden? Wie kann die Pflege diesen mitgestalten?
Die Frage zur Umgestaltung von Krankenhausstrukturen in ambulante Gesundheitszentren halte ich für vielversprechend. Sicher können die zuvor skizzierten Gesundheitszentren hier viele Möglichkeiten eröffnen. Zum Beispiel wäre denkbar, ambulante Operationen vermehrt in Gesundheitszentren durchzuführen oder Kurzzeitliegerbetten bzw. Genesungsbetten für ältere Menschen mit mehr Pflegebedarf nach einem Krankenhausaufenthalt anzuschließen.Die Pflege kann viel dazu beitragen, dass solche Veränderungen gelingen. Es ist unschwer erkennbar, dass sich hier viele attraktive Tätigkeitsbereiche für die berufliche Pflege eröffnen.
Es wird immer wieder über Geld gesprochen, z. B. dass im Krankenhaus besser bezahlt wird. Die Frage ist, ob Geld ausreichend ist, um einen unattraktiven Beruf attraktiv zu machen. Wahrscheinlich nicht dauerhaft, was genau wird gebraucht? Ggf. Entscheidungskompetenz, Gestaltungsmöglichkeiten? Sehen die Pflegenden das ähnlich oder anders?
Über Geld zu sprechen, ist für die Pflege wichtig. Eine angemessene Vergütung sorgt für eine Grundattraktivität. Aber ebenso wichtig ist eine bedarfsgerechte Personalbemessung und -ausstattung. Denn Berufszufriedenheit hängt sehr davon ab, ob man seine Arbeit gut machen kann. Die Kolleg:innen wollen so arbeiten können, wie sie es gelernt haben und wie es die Würde ihrer Klient:innen verlangt. Zusätzlich braucht es Weiterentwicklungs- und Karrieremöglichkeiten mit entsprechenden Gestaltungs- und Entscheidungskompetenzen. Sicher setzt jede Pflegeperson in diesen Punkten eigene Prioritäten für die eigene Berufszufriedenheit. Es ist ja eine große Berufsgruppe, die in vielen verschiedenen Bereichen arbeitet, auch ganz unterschiedlich qualifiziert ist und individuelle Lebens- und Berufspläne hat.
Gehen wir zur Akademisierung: Es gibt viele unterschiedliche Studiengänge für Pflegende. Sehen Sie hier Veränderungsbedarf?
Ich sehe hier großen Veränderungsbedarf. Erstmal: Es gibt nicht genug Studiengänge für Pflegende. Mit der jetzigen Anzahl sind wir weit davon entfernt, die 10-20 % Akademisierung in den Pflegeberufen zu erreichen, die der Wissenschaftsrat schon vor 10 Jahren empfohlen hat. Die primärqualifizierenden Studiengänge haben außerdem das Problem der mangelnden Vergütung der Praxiseinsätze und damit verbunden eine erhebliche Einschränkung, sich das Studium mit Jobben zu finanzieren. Und natürlich wäre eine gewisse Einheitlichkeit im Sinne der Professionalisierung wünschenswert. Ich sehe allerdings auch, dass sich vor allem die Praxis öffnen und den Absolvent:innen geeignete Stellen anbieten muss, auch in der direkten Praxis mit Patient:innen. Modelle, wie in der Praxis der Qualifikationsmix zu gestalten ist, liegen vor. Es braucht in Politik und Versorgungspraxis einen klaren Willen, die Pflege zum Wohle der Patient:innen zu verbessern.
Die B. Braun-Stiftung fördert Pflegeforschung. Es gehen immer noch zu wenig Anträge bei uns ein. Da gibt es noch viel Entwicklungsbedarf. Welche Rolle sollte die Forschung durch / für Pflegende spielen? Welchen Bedarf gibt es bzw. wo liegen die Hindernisse?
Es ist sehr erfreulich, dass die B. Braun Stiftung hier aktiv ist. In der Tat ist der Entwicklungsbedarf groß. Auf universitärer Ebene ist Pflege als Fach noch viel zu wenig vertreten und zu schlecht ausgestattet. Eine echte Disziplinbildung steht noch aus. Es bräuchte ein umfängliches Strukturförderprogramm, damit wir internationales Niveau erreichen und Spitzenpflege neben Spitzenmedizin stellen können. Die klinische Pflege wird hierzulande noch wenig beforscht – ganz zu schweigen von weiteren Feldern, die ebenfalls wichtig sind. Gerade in der Pandemie-Zeit erleben wir, wie wichtig wissenschaftlich fundiertes Arbeiten in der Gesundheitsversorgung ist. Pflege braucht wissenschaftliche Weiterentwicklung. Das größte Hindernis dürfte sein, dass Pflege in Deutschland fast ausschließlich als praktischer Verrichtungsberuf gesehen und verkannt wird, wie anspruchsvoll die Ausübung dieses wissens- und beziehungsbasierten Berufs tatsächlich ist.
Auf der Fortbildung für Pflegende hatten wir dieses Jahr einen Start-up-Pitch organisiert mit Jungunternehmern, die Lösungen für Pflegende erarbeiten. Die Teilnehmer*innen haben einen Sprachassistenten für die Pflegedokumentation für den 1. Preis ausgewählt. Das sagt viel, finden wir. Deshalb unsere Frage: Welche Innovationen benötigt die Pflege? Und welche Innovationen hat Ihrer Meinung nach die Pflege in der letzten Zeit gesehen bzw. die Arbeit beeinflusst? (Innovationsbegriff nach Schumpeter – Dinge „neu“/anders machen oder neue Dinge machen)?
Die Pflege kann sehr viele Innovationen gut gebrauchen. Die Welt entwickelt sich insgesamt rasant, da kann Pflege nicht außen vor bleiben. Wie gesagt, braucht es vor allem Innovation in der Interpretation der Rolle von Pflegefachpersonen. Der demografische Wandel verlangt entschieden nach einer Erweiterung der Tätigkeitsfelder, der Verantwortung und Entscheidungsbefugnisse. Gleichzeitig nach allen verfügbaren Möglichkeiten, Pflege zu entlasten. Die Digitalisierung hat hier sehr viel zu bieten, wie der Sprachassistent zeigt. Leider geht es in Deutschland viel zu langsam voran. Auch im Bereich der Robotik liegt sehr viel Potenzial, vor allem auch in Lösungen, an die wir nicht so vordergründig denken. Eine Vielzahl von Anwendungen wäre vorstellbar. Aber es ist wichtig, sie konsequenter zusammen mit Pflegenden zu entwickeln. Denn wenn sie in der Anwendung zu fehleranfällig sind oder zu umständlich, werden sie schnell abgelehnt. Ein weiteres Feld für Innovation muss das Thema „Klimawandel und Pflege“ werden – von neuen Ansätzen bei Hitzewellen und in Katastrophensituationen bis hin zu „Green Healthcare“.
Wie stehen Sie dazu, dem Fachkräftemangel in der Pflege mit Kräften aus dem Ausland zu begegnen?
Zunächst: prinzipiell sind uns alle Kolleg:innen aus anderen Ländern willkommen, die bei uns in der Pflege arbeiten wollen. Darin jedoch die Lösung für unseren Personalmangel zu sehen, greift in vieler Hinsicht zu kurz. Der International Council of Nurses hat gerade einen Bericht veröffentlicht, der weltweit den Mangel mit bis zu 11 Millionen Pflegepersonen nach der Corona-Pandemie beziffert und der vor allem ärmere Länder betrifft. Pflegekräfte aus dem Ausland anzuwerben, um sie hier den unverändert schlechten Bedingungen auszusetzen und ihren eigenen Ländern zu entziehen, ist keine nachhaltige Lösung. Es setzt sich auch dem Vorwurf des Postkolonialismus aus. Wenn aus dem Ausland rekrutiert wird, ist unbedingt auf ethisch korrektes Vorgehen zu achten und den Richtlinien mit Gütesiegeln versehener Agenturen zu folgen. Ganz klar ist, dass die Auslandsrekrutierungen kein Ersatz sind für die notwendigen Anstrengungen, die Pflegeberufe hierzulande wieder attraktiv zu machen.
Nun meine letzte Frage – wie viel Zeit brauchen wir für diese wichtigen, längst überfälligen Veränderungen bzw. was lässt sich mittelfristig verändern?
Die Zeit, die wir benötigen, hängt vor allem von der Entschiedenheit des politischen Willens ab. Viele Maßnahmen können sofort getroffen werden, hätten längst getroffen werden müssen. Eine Verbesserung des Gehalts beispielsweise. Auch eine Stärkung der Akademisierung geht sofort, braucht aber zur Entfaltung ihrer Wirkung mindestens fünf bis zehn Jahre. Das darf aber nicht davon abhalten, in mittel- bis langfristige Maßnahmen zu investieren. Hätte man vor Jahren, wie gefordert, mehr in Studiengänge investiert, hätten wir heute attraktive Angebote auch für Abiturient:innen. Es liegen eine Vielzahl von Veränderungsvorschlägen vor, auch Lösungen für die Umsetzung. Es kommt auf das Handeln der Verantwortlichen an!
Mit der Bundesgeschäftsführerin-Position des DBfK ist Dr. Bernadette Klapper in die Pflege zurückgekehrt. Die Krankenschwester und Soziologin hat bis Oktober 2021 bei der Robert Bosch Stiftung gearbeitet. Als Bereichsleitung Gesundheit war sie unter anderem für das Projekt „Community Health Nursing“ verantwortlich. An der Spitze des DBfK hat sie Franz Wagner abgelöst, der sich nach 22 Jahren an der DBfK-Spitze in den Ruhestand verabschiedet hat.