Forschungsprojekt Nadelhalter: Praxistest bestanden oder wie die Waldameise in den OP Einzug hielt

Forschungsprojekt Nadelhalter: Praxistest bestanden oder wie die Waldameise in den OP Einzug hielt

Die B. Braun-Stiftung setzt auf anwendungsorientierte Forschung. Das zeigt das von dem Brandenburger Kinderchirugen Dr. Carsten Engelmann geförderte Projekt zur Weiterentwicklung eines chirurgischen Nadelhalters. Was Otto Lilienthal zum Fliegen inspirierte, das ist heute noch möglich, sagt Dr. Carsten Engelmann auf der Kuratoriumssitzung am 27. Juni 2019. Er beschreibt den Transfer seiner Studienidee - von Ameisenkiefern zum Bau funktionaler chirurgischer Greifswerkzeuge. Denn die Natur zeigt die Lösung. Endochirurgische Nadeln drehen sich in schwierigen Situationen oft aus der gewünschten Stichrichtung aus dem Nadelhalter heraus. Das haben Waldameisen in ihrer Welt voll im Griff. Die Insekten packen z. B. vergleichbare riesige Douglasiennadeln mit ihren Greifwerkzeugen, ohne dass ihnen ihr Transportgut entgleitet.

Herr Dr. Engelmann, um was genau handelt es sich bei Ihrem von der B. Braun-Stiftung geförderten Forschungsprojekt?

Wie Otto Lilienthal aus der Beobachtung von Störchen das heute noch weltweit genutzte Prinzip des Flugzeugflügels abgeleitet hat, versuchten wir aus der Beobachtung von Ameisenkiefern Prinzipien für eine verbesserte Konstruktion medizinischer Greifwerkzeuge zu gewinnen.

Was brachte Sie auf diese Idee? Wo lag das Problem?

Besonders an schwierigen Stellen mancher Operation kommen Instrumente, die chirurgische Nadeln halten an ihre Grenzen:  Anstatt exakt Gewebe zusammenzunähen, drehen sich die Nähnadeln in Ihrem Halter. Nach einem langen und solchermaßen verkomplizierten Eingriff an einem Kindermagen habe ich mich an einem Sommerabend im Wald unter einen Baum gesetzt und durchgeatmet. Mein Blick fiel auf einen großen Haufen wuselnder Waldameisen: Diese für Brandenburg typischen Tiere bugsierten mühelos lange Tannennadeln über ihr zerklüftetes Zuhause. Sie benutzten dazu allein ihren Kiefer.  Unter einem Baum fiel also – ähnlich wie bei Newton - der Groschen: wir müssten „nur“ versuchen, uns das „Wie“ abzuschauen!

Das hört sich sehr einfach an …

Erste Herausforderung war, dass Methodik und Team komplett entwickelt werden mussten! Ich empfinde es immer noch als unerwartetes Glück, wie sich eine Gruppe zusammenfand, die aus einem Evolutionsbiologen, einem diplomierten Architekten, einem Maschinenbauer, mir, dem Chirurgen und einer Dame besteht. Mentalitätsunterschiede zwischen unseren Disziplinen waren eine echte Herausforderung, aber es spricht für die Faszination der Forschungsaufgabe, dass diese Mannschaft über fünf Jahre stabil blieb.

Technisch zu lösen gab es folgendes: Zwar wusste man viel über die Anatomie und noch mehr über das Sozialverhalten der Ameisen, aber im Detail trafen wir auf unentschlüsselte Spitzentechnologie. Nachdem die behördlichen Genehmigungen für den Fang dieser auf der „Roten Liste“ stehenden Tiere ergangen waren, versuchten wir, auf verschiedenen Wegen Ihre genaue Kiefer-Bewegung zu dokumentieren: Sehr viele davon waren Sackgassen. Es kam „im Feld“ zu lustigen und gefährlichen Erlebnissen, im Labor zu spannenden Beobachtungen bei der Auswertung zu gigantischen Datenmengen und –modellen sowie schließlich bei der Konstruktion von neuen Nadelhaltern zu engagierten Diskussionen. 

Womit alles anfing. Der Ameisenhaufen im Havelland.

Gibt es eine Aussicht auf praktische Umsetzung?

Zunächst darf ich entgegnen: Echte Forschung, sagen viele echte Wissenschaftler, soll keine utilaristische Produktentwicklung darstellen, genauso wie „echte Liebe“ zwischen Menschen nicht an einen Zweck gebunden sein darf. Und doch konstruiert „echte Liebe“ oft schöne Familien und bedeutende Werke!

In unserem aktuellen Projekt haben wir drei konkrete Entdeckungen gemacht:  Die Drehachsen der Ameisenkiefer sind erstens nach außen verlagert. Sie verlaufen – zweitens – anders als beim Storchenschnabelmechanismus bisheriger Nadelhalter schräg zur Köperlängsachse. Drittens kippen sie im Verlauf von Kieferöffnung oder -schluss nach außen. Für Biologen ist das sehr aufregend, denn bislang galt international, dass die Kiefer aller beißenden Insekten so simpel drehen wie eine Zimmertür, also um nur einen einzigen Freiheitsgrad ihrer Scharniere. Wie schon die Gebrüder Wright zu den Messungen Lilienthals sagten, lag der „Knackpunkt“ in einer möglichst exakten Bestimmung von in der Natur vorgegebenen Winkeln!

Wir haben mit diesem neuen Wissen drei neue Nadelhaltermodelle konstruiert und auch als Prototypen gefertigt. Deren Greifkraft steigt um das Doppelte, das Dreifache sowie das Fünffache gegenüber dem herkömmlichen Modell. Ob das nun Wissenschaft ist, mögen andere beurteilen. Wir hoffen, dass zumindest die Fertigung der bescheidensten, ersten Variante, für die man richtigerweise auf die zeitgenössischen Methoden des digitalisierten Maschinenbaus angewiesen ist, keine erhöhten Kosten verursacht.

Quasi im Nebenschluss, hat die Greifbewegung der Ameise uns noch zu einer konstruktiven Neuerung an einer Schlauchklemme für Infusionssysteme, einem medizinischen Massenartikel inspiriert. Daran hatten wir vorher überhaupt nicht gedacht! Nun kann die neue Klemme hoffentlich dazu beitragen, dass beispielsweise „IV- Ports“ anwendungssicherer werden – besonders wichtig für Patienten, die im sog. „Zelltief“ einer laufenden Chemotherapie wenig Ressourcen haben, Komplikationen zu bewältigen.

Für welche Forschungsprojekte sind die Stipendien der B. Braun-Stiftung besonders geeignet?

Das Wort „Anwendungsorientierung“ charakterisiert vielleicht am ehesten die DNA der B. Braun Stiftung. Wussten Sie, dass eine 2012 in der Zeitung „Nature“ publizierte Analyse die Reproduzierbarkeit erstklassig veröffentlichter präklinischer Krebsforschungsstudien auf 13% veranschlagte? Dreizehn Prozent! Während ein toller neuer Antikörper, der nicht funktioniert, gern mit „biologischer Variabilität“ entschuldigt wird, wird ein neues medizinischen Schlauchsystem, das nicht läuft als eben das erkannt, was es ist: „Läuft nicht“.

Die jüngere Innovationsforschung hat gezeigt, das soziale Systeme oft ein Grund sind, warum einer riesigen öffentlichen Forschungsmittelauskehr vielfach nur uneingelöste Versprechen als klägliches Ergebnis gegenüberstehen: Fehlanreize in der universitären Forschung fördern heute vielerorts den Typus des „machiavellistischen Hehlers“ von Wissen und Arbeit möglichst vieler unterstellter Doktoranden und Mitarbeiter. 

Wie kommt es zu guten Ergebnissen?

Für Ergebnisse, die dem Praxistest standhalten, ist meiner festen Überzeugung nach die eigenhändige Arbeit an der „bench“, im Feld oder am Bett wichtig. Diese geht mit der Bereitschaft einher, sich selbst Misserfolgen zu stellen. Aufgrund eines engen persönlichen Kontaktes zum Forscher und der traditionellen Einbeziehung von Pflegenden schon zu einer Zeit als dies noch nicht ‚en vogue‘ war, ermutigt die B. Braun Stiftung genau dazu. 

Medizinische Forschungsförderung profitiert schließlich auch vom „Mut zur Kleinheit“: Werner Forssmann hat seinen nobelpreisprämierten Herzkatheter an einem Kreiskrankenhaus entwickelt, in der Geschichte des skandinavischen Preises finden sich gar mehrfach Schul-Physiklehrer:  Individualität, Freiheit und Kontemplation bleiben eben wichtigste Voraussetzungen für viele Schöpfungsprozesse!  Im sprichwörtlich hierarchischen und - wie jeder Erfahrene weiß – narzisstischen Milieu der Medizin wird Kreativität aber oft abgewürgt. Hier kann ein Akteur wie die B. Braun Stiftung Freiräume gewähren. Durch Ihre Ressourcenstärke bringt sie den langen Atem und die Geduld mit, den viele Projekte brauchen. Wenn unser Ameisenhaufen Winterschlaf hielt, ruhte auch die Forschung.

Was ist das Besondere an der Forschungsförderung der B. Braun-Stiftung?

Ihre Verpflichtung auf alle an der Krankenversorgung beteiligten Berufsgruppen ist ultimativ eine Absage an den Elitismus. Paradoxerweise vermag eben dies,  bestenfalls relevante Ergebnisse zu erzeugen. Ein Beispiel für ein solches Paradox mag sein, daß hier eine anwendungsorientierte Forschung die grundlagenwissenschaftliche Erkenntnis verschieblicher Gelenkachsen ermöglicht hat.

Der einflussreiche Yale-Gelehrte William Deresiewicz kritisierte kürzlich, dass die zeitgenössische „Spitzen-Forschung“ einen großen Teil „Aufreger“ hervorbrächte, deren primäres Ziel die Aufwertung von Lebensläufen sei. Die zahlreichen aufgedeckten Plagiatsfälle etwa bei Politikern scheinen ihm Recht zu geben. Wenn Sie ein Projekt anstreben, dessen Ergebnisse einmal dem Test der Wirklichkeit in der Krankenversorgung standhalten könnten, sollten Sie sich damit bei der B.Braun Stiftung bewerben!

 

Im Havelland ist der Himmel seit jeher etwas höher. Ein Aspekt, der nicht nur den Schriftsteller Fontane zu klassischen Versen über Obstbäume inspiriert hat, sondern der heute noch der Forschung dienlich sein kann. Das zeigt diese Forschungsarbeit. Dr. med. Dr. rer. nat. Carsten Engelmann (52) arbeitet als Chefarzt der Kinderchirurgie am Klinikum Brandenburg/Havel.

E-Mail: c.engelmann@klinikum-brandenburg.de