4. Plenumsveranstaltung am 6. Juni 2018 in Berlin.

4. Plenumsveranstaltung am 6. Juni 2018: Von der Innovation zur Regelversorgung: Nutzenbewertung und Entscheidungsfindung

 

„Das deutsche Gesundheitssystem ist wahrscheinlich eines der weltweit besten, aber wir haben weiter hohen Innovationsbedarf, auch in unseren Prozessen“, sagte Prof. Dr. Alexander Schachtrupp von der B. Braun-Stiftung zum Auftakt der 4. Plenumsveranstaltung mit dem Titel „Von der Innovation zur Regelversorgung: Nutzenbewertung und Entscheidungsfindung“, die am 6. Juni in Berlin gemeinsam von der Hochschule Neubrandenburg und der B. Braun-Stiftung veranstaltet wurde. Dabei stellen sich die Fragen, wie medizinische Innovationen zum Patienten gelangen und ob das in einer angemessenen Zeit realisierbar ist. Experten aus Institutionen, Fachgesellschaft, Ministerium und der Industrie diskutierten das Spannungsfeld von Evidenzgenerierung, Patientennutzen und Innovationsförderung in einem wirtschaftlich tragbarem Gesundheitssystem. Prof. Dr. Axel Mühlbacher betonte die Chancen zur Förderung von Innovationen im Sinne neuer Handlungsmöglichkeiten durch die adaptive Nutzenbewertung zu nutzen. Dass dabei eine Balance zwischen hohen Investitionen in neue Technologien, dem Patientennutzen und den Kosten für das System erreicht werden müsse, steht für den Gesundheitsökonomen von der Hochschule Neubrandenburg und Mitveranstalter des Plenums außer Frage.

Programm

Medizintechnologie-Innovationen schneller ins System: Post-Market Daten hilfreich

Harald Kuhne vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie wies auf die ökonomische Bedeutung der Gesundheitsbranche mit einer Bruttowertschöpfung von rund 350 Milliarden Euro im Jahr 2017 hin. Die Branchenstruktur der Medizintechnikunternehmen ist mit 93 Prozent dominiert von kleinen und mittleren Firmen. Die Innovationszyklen sind deutlich kürzer als im pharmazeutischen Bereich: Ein Drittel des Umsatzes entsteht mit Produkten, die nicht älter als drei Jahre sind. Das müsse man im Blick haben, wenn man von Verfahren spricht, die man den Medizintechnikherstellern für eine Erstattungsfähigkeit auferlegt. „Wenn für die Medizintechnik die gleichen Kriterien gelten, wie für die Pharmabranche, kann das für das deutsche Innovationssystem gefährlich werden“, merkte Kuhne kritisch an. Am Beispiel eines Implantats für die individualisierte Neurostimulation zur Blutdrucksenkung veranschaulichte Dr. Michael Lauk, CEO der neuroloop GmbH, die zu berücksichtigenden Zeiträume: Grundlagen- und präklinische Forschung beanspruchen etwa 10 Jahre. Nach ersten Anwendungen am Menschen folgt eine 2-jährige Multi-Center-Studie, sodass der Marktstart für 2022 geplant ist. Der Zugang zum Kostenerstattungssystem dauert viele Jahre. Daher braucht es nach Ansicht von Lauk „gerade für Start-up-Unternehmen finanzierbare und definierte Pfade für die Einführung neuer Therapie und Methoden, nachdem die Sicherheit und grundsätzliche Wirksamkeit gezeigt wurden, z.B. durch Konzentration auf Post-Market-Daten.
 

Frühe Nutzenbewertung zum zügigen Start und späte zur Sicherheit

Weitestgehend unbestritten ist die Bedeutung randomisierter kontrollierter Studien, wenn es um den Nachweis der Kausalität klinischer Effekte geht. „Trotzdem ist es sinnvoll zu diskutieren, inwieweit wir mit innovativen Studiendesigns und Registern zusätzliche Evidenz schaffen können“, erklärte Mühlbacher. Statt problematischer Alles-oder-nichts-Entscheidungen könnte seiner Ansicht nach eine bedingte Preissetzung sowie eine fortlaufende Evidenzgenerierung über den Produktlebenszyklus als eine adaptive Nutzenbewertung gestaltet werden. In Zusammenhang mit der frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln wies Prof. Dr. Bernhard Wörmann, Berlin, daraufhin, dass zwar mit diesem Verfahren fast alle neuen Präparate früh zur Verfügung stehen, zu diesem Zeitpunkt aber nur relativ unreife Daten vorliegen können. Kritisch ist das auch in Bezug auf bestimmte Nebenwirkungen, die erst Jahre später auftreten können. Deshalb schlägt der medizinische Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie e.V. (DGHO) für nachhaltige Festlegungen eine zusätzliche späte Nutzenbewertung vor. Um die Defizite der frühen Nutzenbewertung auszugleichen, müssten zwischenzeitlich standardisierte Daten z.B. aus Registern erhoben werden.
 

Patientennutzen und Endpunkte: Patientenwunsch ist individuell

Professor Wörmann ging auch auf weiteres bedeutendes Thema ein, nämlich die Relevanz von Endpunkten, und stellte die Frage: „Sind die Endpunkte, die durch das Health Technology Assessment vorgegeben sind oder die wir in Leitlinien nutzen, wirklich ganz nah am Patienten dran?“ In der Onkologie wird beispielsweise aktuell für Immuntherapien diskutiert, ob die mittlere Überlebenszeit oder die Rate an Langzeitüberlebenden wichtiger ist. Welcher Endpunkt hat den höheren Wert? Besonders schwierig sei, so Wörmann, die Bewertung von Endpunkten in sehr heterogenen Studienkollektiven. Ist beispielsweise für den über 80-jährigen Patienten mit einem Hodgkin-Lymphom der Endpunkt Überlebenszeit genauso relevant wie für junge Patienten oder eher die Lebensqualität? Das progressionsfreie Überleben ist ein ebenfalls wichtiges Beurteilungskriterium, wie der Hämatologe und Onkologe erklärte: „Viele Krankheiten werden zu chronischen Erkrankungen, die Patienten leben nicht krankheitsfrei, aber progressionsfrei“.
 

Trend in den USA: Patientenzentrierte Gesundheitsversorgung. Der Patientenwunsch ist ausschlaggebend

Hierbei spielt auch eine zunehmende Rolle, welche Präferenzen die Patienten haben. Wer ist qualifiziert, Werturteile zu treffen, wenn zu bestimmen ist, ob die Vorteile einer Methode die Risiken übertreffen, fragte Juan Marcos Gonzalez, Professor an der Duke University in Durham, USA. Traditionell waren das Ärzte und Politiker. „Doch grundsätzlich ist der Patient der beste Sachverständige, wenn es um sein Wohlergehen geht“, hob Gonzales hervor. In den USA gibt es eine Entwicklung hin zu patientenzentrierter Gesundheitsversorgung und damit zur steigenden Bedeutung von Patientenpräferenzen. So vertritt die Food and Drug Administration (FDA) grundsätzlich den Ansatz, Patienten in den gesamten Prozess der Medizinprodukteentwicklung einzubeziehen. Gonzales berichtete von einer Pilotstudie im Rahmen der Patientenpräferenzen-Initiative des Center for Devices and Radiological Health (CDRH) der FDA, an der der Wissenschaftler beteiligt war. Sie startete 2014 und war bereits 2015 Grundlage für die Zulassung eines Implantats zur Behandlung von Adipositas. Das Besondere war: Obwohl die Studienendpunkte nicht erfüllt waren, erteilte die FDA die Zulassung basierend auf der Patientenpräferenzstudie. Denn es wurde festgestellt, dass der durchschnittliche Patient wahrscheinlich nicht wie erhofft vom dem Implantat profitieren wird, es aber eine Minderheit gibt, für die der Nutzen die Risiken weit überwiegt und deshalb Zugang zu dieser Behandlungsmöglichkeit bekommen sollten.

Es gibt nicht den Patientenwunsch: deshalb kleine Studien

Vor einer Überbewertung scheinbar objektiver Daten aus der Messung klinischer Effekte warnte Prof. Dr. Karl-H. Wehkamp, Universität Bremen. Denn Patienten beurteilen medizinische Innovationen in ihren jeweiligen, heterogenen Rollen mit wechselnden Interessen und Sichtweisen. Wie Wehkamp ausführte, ist die Sicht der Patienten vielfältig, veränderlich und differenziert. Mit kleinen qualitativen Studien zu spezifischen Fragestellungen kann die Patientensicht erfahrbar gemacht werden, so der Soziologe.
 

IQWIG erkennt Patientenpräferenzen an

Die Bedeutung der Messung von Patientenpräferenzen bestätigte PD Dr. Stefan Sauerland, Ressortleiter nichtmedikamentöse Verfahren am Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Für die Berichte des IQWiG zur Nutzenbewertung werden Ergebnisse zu Patientenpräferenzen aber nicht regelmäßig benötigt, da die übliche Datenlage eindeutig sei, so Sauerland. Auf europäischer Ebene soll die Nutzenbewertung von Arzneimitteln und Medizinprodukten bzw. Methoden harmonisiert werden. Einem Entwurf für mögliche Regulationen ab dem Jahr 2020 entsprechend, sollen beide Bereiche hinsichtlich des Bewertungszeitpunkts und der darzulegenden Datenbasis in gleicher Weise bewertet werden. Das Bewertungskriterium sowohl für Arzneimittel als auch für Medizinprodukte bzw. Methoden soll einheitlich der Zusatznutzen sein.
 

NUBS sind gewinnbringend

Über die Umsetzung der Nutzenbewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB) aus Sicht des Klinikums informierte Ines-Maria Diller von der Charité – Universitätsmedizin Berlin. NUBs mit Medizinprodukten hoher Risikoklassen, invasivem Charakter und neuem theoretisch-wissenschaftlichen Konzept (§137h SGB V) haben das Klinikum bisher noch betroffen. Das NUB-Entgelt ist für Krankenhäuser grundsätzlich attraktiv, da zusätzliches Geld für Leistungen erwirtschaftet werden kann, die bisher noch nicht im DRG-System abgebildet sind. Problematisch sei allerdings die Einigung über die tatsächlichen Entgelte auf lokaler Ebene; in Berlin verhandelt jedes Haus nur für sich. Dabei existieren starke regionale Abweichungen bei den Verhandlungsabläufen, der Fortgeltung von Vereinbarungen und Rückwirkung von Entgelten. Im Krankenhaus selbst muss Personal im Bereich der Antragstellung und Entgeltkalkulation zur Verfügung stehen und der zusätzliche Aufwand für Informationen an den G-BA und die Erprobung auch im klinischen Bereich muss berücksichtigt werden. Nach Dillers Erfahrungen ist die frühzeitige Kontaktaufnahme zu den Fachabteilungen einerseits und Herstellern andererseits hilfreich. NUBs machen ca. 1 % des verhandelten Gesamtbudgets der Charité aus. Vordergründig scheinen Ertrag und Aufwand in keinem ausgewogenen Verhältnis zu stehen, doch Diller beurteilt die Situation grundsätzlich positiv: „Durch das NUB-Verfahren finden jedes Jahr neue Methoden Eingang in die klinische Routine und damit breitere Erprobung. Aus meiner Sicht bewährt sich das Verfahren. Es ist komplex und zeitaufwändig, aber definitiv brauchbar.“
 

Zu wenig Geld für Innovationen der Versorgungsforschung

Die Förderung von Innovationen ist Aufgabe des Innovationsfonds. Zur Verbesserung der deutschen Gesundheitsversorgung stehen insbesondere neue sektorenübergreifende Versorgungsformen und die patientennahe Versorgungsforschung im Fokus. Vor dem Hintergrund der jährlich zur Verfügung stehenden Fördersummen, 225 Millionen Euro für Versorgungsformen, 75 Millionen Euro für Versorgungsforschung, stellte Prof. Dr. Volker Amelung vom Bundesverband Managed Care jedoch fest: „Keine andere Branche würde sich einen so geringen Anteil für Forschung und Entwicklung leisten.“ In den Projekten zu neuen Versorgungsformen geht es prominent um E-Health, vulnerable Bevölkerungsgruppen, Case Management (Lotse, „der Kümmerer“) und Patientenstratifizierung (die richtige Therapie für den richtigen Patienten). Damit aus Pilotprojekten eine realisierte Lösung wird, muss initial die Regelversorgung berücksichtigt werden. Beispielhaft für ein E-Health-Projekt nannte Linda Kerkemeyer von inav – privates Institut für angewandte Versorgungsforschung GmbH „Rise-up“ in Bayern. In diesem Projekt geht es um die Entwicklung eines Bewertungsinstruments zur Messung des Chronifizierungsrisikos in der Hausarztpraxis bei Patienten mit akuten oder subakuten unspezifischen Rückenschmerzen. 

Hintergrund
Ob eine medizinische oder medizinisch-technische Untersuchungs- und Behandlungsmethode Patienten als GKV-Leistung angeboten werden kann, ist in Deutschland für den ambulanten und stationären Bereich bisher unterschiedlich geregelt. Grundsätzlich haben die Krankenhäuser einen barrierefreien Zugang zu Innovationen. Es gilt die Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt, das heißt zugelassene Produkte können bisher ohne Genehmigung des G-BA im Krankenhaus eingesetzt werden; in der vertragsärztlichen Versorgung stehen neue Methoden unter einem Erlaubnisvorbehalt. Hier entscheidet der G-BA, ob Produkte in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen werden. Allerdings werden im Krankenhaus Innovationen häufig nicht adäquat vergütet, weil sie im DRG-System nicht abgebildet werden. Durch die retrospektive Kalkulation des DRG-Fallpauschalensystems dauert es bis zu vier Jahre bis eine sachgerechte Eingruppierung in die Fallpauschalen oder Zusatzentgelte einläuft. Alternativ können Krankenhäuser eine Anfrage für eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode (NUB) stellen. Der Bewertungsprozess wird vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) vorgenommen.
Der Gesetzgeber hat mit dem GKV-VSG den Paragraphen 137h SGB V eingeführt. Erstmalig erfolgt damit ein systematisches und obligatorisches Verfahren zur Bewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden mit Medizinprodukten hoher Risikoklasse. Dieses Verfahren hat unmittelbaren Einfluss auf die Vergütung von neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB-Verfahren). Vor diesem Hintergrund hat die B. Braun-Stiftung mit ihrem Forschungsprojekt zur Nutzenbewertung in der Medizintechnik eine Diskussionsgrundlage erarbeitet, v.a. um Kriterien und Verwendungslogik der Nutzenbewertung zu klären.
Entwicklung und Zulassung eines Medizinproduktes ist im Medizinprodukterecht geregelt. Jedes Produkt wird einer Risikobewertung unterzogen zum Nachweis der Sicherheit. Dazu gehören auch die klinischen Bewertung bzw. Prüfung zum Nachweis der Leistungsfähigkeiten und Wirksamkeit sowie ein Qualitätsmanagementsystem. Damit hat ein Medizinprodukt hoher Risikoklasse schon eine Reihe von Hürden erfolgreich genommen, wenn es die europäische Zulassung / CE-Kennzeichnung erhält. In diesem Zusammenhang werden Verbesserungen an den vorgesehenen Regelungen zur Nutzenbewertung gefordert. Dazu gehören ein zeitlich abgestufter Verfahrensvorschlag, eine bessere Beteiligung der betroffenen Hersteller sowie die Möglichkeit zur Aussetzung von Bewertungsverfahren bei Studien, die kurz vor dem Abschluss stehen.